War der „Verrat" ein Übersetzungsfehler?

Bibelforscher meint: Judas war unschuldig, wurde zum Werkzeug in einer Intrige gemacht - Versuch einer späten Rehabilitierung

Von SIEGFRIED HELM

London - Zwei Jahrtausende lang galt er als der Verräter des Herrn. Dante läßt ihn in der „Göttlichen Komödie" im tiefsten Pfuhl der Hölle büßen. Jetzt wird Judas, der Jesus doch für 30 Silberlinge verriet, als Unschuldslamm dargestellt: Der „Judaskuß" war kein Verrat, Judas einer der ergebensten Jünger Jesu. Die Verteufelung des Judas war eine gezielte Desinformation interessierter frühchristlicher Kreise.

Mit dieser These überrascht der Theologieprofessor William Klassen von der Ecole biblique, dem Institut für Bibelforschung in Jerusalem, in dem Buch „Judas. Verräter oder Freund Jesu?". Ihm fiel bei seinen Quellenstudien für eine Biografie des Judas auf, daß in den frühesten Berichten der Evangelien des Neuen Testaments von „Verrat" oder „verraten" keine Rede ist. Das griechische Verb „paradidomi" sei unbegreiflicherweise mit „verraten" übersetzt worden, wo es doch etwas ganz anderes bedeute, nämlich: „übergeben, überreichen". Auf die falsche Übersetzung dieses Wortes gründet der Bibelforscher seine Umwertung der christlichen Tradition.

Judas sei erst als Verräter aufgebaut worden, als die frühchristliche Kirche sich formierte und den Bruch mit dem Judentum vollzog. Judas mußte herhalten als Symbolfigur für die Anschuldigung, die Juden hätten Jesus verraten, eine Version, mit der sich die Frühchristen vom Judentum abgrenzen konnten. Die Kreuzigung Christi sei vielmehr Pontius Pilatus anzulasten, der eine die römische Herrschaft bedrohende jüdische Verschwörung befürchtete, bei der Jesus mit dem Hohepriester unter einer Decke gesteckt habe. Judas sei bei Geheimkontakten beider nur ein Vermittler gewesen.Als Judas mit Gewappneten im Garten Gethsemane Jesus den Judaskuß gab, war das für ihn Zeichen der Kontaktherstellung. Judas ahnte nicht, daß die Priester des Tempels Jesus den Römern ausliefern würden. Als Judas aufging, daß er unwissentlich zum Werkzeug des Verrats Jesu an die Römer geworden war, gab er dem Matthäus-Evangelium zufolge die 30 Silberlinge sofort zurück und sagte: „Ich habe unschuldiges Blut verraten."

Professor Klassen fiel auf, daß Judas im frühen Markus-Evangelium nur dreimal erwähnt wird. „In den frühesten Quellen war Judas immer nur ausführendes Organ der Befehle Jesu." Erst später setzte seine gezielte Verunglimpfung ein. So dichteten ihm die Frühchristen rote Haare an. Erst im Johannes-Evangelium, dessen Entstehung in eine spätere Zeit fällt, erfährt Judas eine Umdeutung. Klassen: „Die sich formierende Kirche sah die Notwendigkeit, sich abzugrenzen, und verfiel auf Judas als nützlichen Kronzeugen, denn er war Jude und Jünger."

Professor Klassen steht mit seiner These nicht allein. Lionel Wickham, Dozent für Theologie, Spezialgebiet Frühchristentum an der Universität Cambridge, wertete die neue These als „plausibel" und fügte hinzu: „Wenn Judas die Absicht hatte, Jesus mit dem Hohepriester zusammenzuführen, um ein Bündnis zur Vertreibung der Römer zu schließen, dann handelte er ehrenhaft. Die Tatsache, daß er sich später umbrachte, deutet darauf hin, wie entsetzt er über die anschließenden Vorgänge war."

Die Rehabilitierung des Judas und die Zuweisung der Schuld für den Kreuzigungstod Jesu an die Römer entzieht Vorurteilen den Nährboden für Antisemitismus, der wie ein roter Faden durch die ganze Geschichte der Christen geht. Der Ausspruch Pontius Pilatus' „Ich wasche meine Hände in Unschuld" ist im Zuge dieses Revisionismus blanker Hohn, zumal der römische Statthalter die Juden für seine Zwecke manipulierte.

DIE WELT, 24.3.1997, Montag


Fragt sich nur, wieviele Übersetzungsfehler und andere Unwahrheiten sich in der Bibel noch verstecken (M.K.).