Über die Erziehung unserer Kinder


Von Dr. Muhammad Dalmau Carre

Die Funktion des Erkennens, die Fähigkeit zu wissen, ist die fundamentale Funktion des Lebens selbst, von der biologischen zur existentiellen Unterscheidung. Der Impuls, das Phänomen zu begreifen, wohnt dem inne, was Existierendes dazu antreibt, sich selbst zu erhalten. "Educere" heißt, diese ursprüngliche Funktion auszuführen und auch, wie man dies tut, damit man letztendlich versteht, worum es im Leben geht: um die Entfaltung der Fähigleiten dieses Instrumentes, das uns zur Verfügung steht- des Körpers- zu den höchsten Möglichkeiten der Existenz. Wenn man die existentielle Dynamik des Menschen betrachtet, könnte man sagen, daß ein Kind "abwächst", statt aufzuwachsen. Das Kind "springt" aus den Armen der Mutter, in denen es seit der Geburt gehalten wurde, auf den Boden, auf dem es bis zum Ende seiner vorbestimmten Zeit laufen wird. Diesem vom Schöpfer gegebenen Grund wird es begegnen, es wird ihn erfahren, entdecken, studieren, kennen und meistern, und selbst durch diese Begegnung und die folgende Erkenntnis verändert werden. Das höchste Ergebnis dieses Phänomens, die Schöpfung zu erkennen, ist es, den Schöpfer zu erkennen.

"Wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn." (Hadith)

Obwohl der Samen die gesamte Information der entwickelten Pflanze in sich trägt, "lernt" die Pflanze auf jedem ihrer Entwicklungsschritte. Auf der Stufe eines Blattes weiß die Pflanze nicht, wie sie Blumen produzieren soll, aber die Blumen sind die Metamorphose des Blattes. Das menschliche Auge lernt zu sehen durch die Gegenwart des Lichtes. Licht prägt die angeborene Fähigkeit zu sehen aus, aber das Auge muß es lernen. Wenn ein Kind während seiner ersten Lebensmonate völlig vom Licht getrennt wäre, dann wäre es blind. Die Gefühle, die Grundlagen unseres bewussten Selbst, werden anfänglich ausgeprägt durch den Blick der Mutter während des Stillens. Shaykh Abdulqadir sagte mir einmal: "Jedes Kind sollte eine Erinnerung an eine große Liebe haben". Es dreht sich alles um die Begegnung mit der Welt. Schon in den frühen Lebensphasen wird ein Kind entscheidend geprägt durch das, was ihm begegnet, und die Art und Weis, in der dies geschieht, wird die erhaötene Bedeutung bestimmen. Diese Begegnung ist im Wesentlichen mit sich selbst und sie passiert während der Beschäftigung mit der Welt.
Die Eltern sind die ersten "Lichtstrahlen" in der existentiellen Erfahrungswelt eines Kindes, der Lehrer der nächste. Das Kind lernt durch Nachahmung und Wiederholung. Echtes Lehren erlaubt dem Phänomen, aus sich selbst heraus als es selbst zu erscheinen und als solches begriffen zu werden. : "Denn hier ist es keine Frage von Fällen, sondern von Umständen, unter welchen die Phänomene erscheinen; ihre bestehende Reihenfolge, ihre ewige Wiederkehr unter tausenden von Umständen, ihre Gleichförmigkeit und Veränderbarkeit sind bekannt und vorherbestimmt, ihre bestimmte Eigenschaft wird erkannt und wiederbestimmt durch den menschlichen Geist."

Der Körper, unser Ort der Existenz, setzt von der Geburt an die progressive und rhytmische Metamorphose, die im Moment der Empfängnis begann, fort. Das in- der- Welt- sein als individuelle, getrennte Einheit bedingt das Bewusstsein, womit ein Prozess beginnt, den Goethe "Steigerung" nannte, Steigerung in Qualität und Spezialisierung, Feingefühl und Schönheit. Diese Steigerung wird das rudimentäre Gefühl der Zufriedenheit, nachdem das Baby gefüttert und eingeschlafen ist, und das unangenehme Gefühl des Hungers, durch das es geweckt wird, bis zur Beherrschung dieses einzigartigen Organismus durch das bewusste Selbst. Dies passiert in Stufen, die mit den physischen Veränderungen harmonieren, denen der Körper unterworfen ist (eine rhytmische hormonelle Veränderung alle sieben Jahre). Die erste Phase dauert von der Geburt bis zum Verlust der Milchzähne, dem letzten Rest embryologischen Materials, im sechsten oder siebten Lebensjahr. In dieser Phase ist das Leben für das Kind Schönheit.
Die neuen Zähne markieren den Beginn der zweiten Phase von Veränderungen, die bis zum Beginn der Pubertät zwischen dem zwölften und vierzehnten Lebensjahr dauert. Diese Phase ist durch Güte gekennzeichnet.
Der Beginn der Pubertät bringt eine große Veränderung, die sekundären Geschlechtsmerkmale bilden sich aus. Das Selbst erreicht eine andere Stufe der Identität und der Wille des Jugendlichen wird das Leben mit einem starken Sinn für Gerechtigkeit besetzen. Das wird die Beziehung für die nächsten sieben Jahre, bis zum Alter von einundzwanzig Jahren, sein. Fühlen, Denken und Wollen haben sich gerade für diesen Moment herangebildet, wenn der Jugendliche sich mit einer aktiven Absicht ins Leben stürzt. Diese Identität des Selbst kommt vom immer ausgeprägteren Begreifen der Realität von diesem existentiellen Ort aus (das Begreifen des Lebens ist diese grundlegende Funktion, welche sich konstant intensiviert). Es ist das Begreifen des Ortes selbst und der Welt, in der man ist, die bewußte Wahrnehmung dessen, daß man hier ist, jetzt, und daß man selbst es ist, und dies kommt mit dem Gefühl, das einem sagt, wie sehr man sich seiner eigenen Existenz sicher ist und wie sehr man sich darum kümmert.

Malik überlieferte, daß der Prophet, Friede sei mit ihm, gesagt hat: "Ich wurde gesandt, um guten Charakter zu verbessern."

Dies beinhaltet den korrekten Adab, mit Allah, mit der Schöpfung, und mit sich selbst. Um dies umzusetzen, ist Unterscheidung notwendig. Um unterscheiden zu können, muß man begriffen haben, worum es wirklich geht. Die eigene Wahl ist das einzig wirklich Eigene. Man sagt, daß das Kind das Geheimnis des Vaters ist.

Quelle: islamische Zeitung , 38. Ausgabe

@ Ekrem Yolcu

backward.gif (3615 Byte)