Hintergrund: Traditionen der islamischen
Bildung
Individuelle und kollektive Wissensvermittlung an den Koranschulen
Islamische Bildung war über Jahrhunderte hinweg in der Medrese, der sogenannten
Koranschule, verankert. Weit über das Studium des Korans hinaus wurden dort auch
Grammatik, Logik und vor allem islamisches Recht unterrichtet. In diesen Lehrinhalten
spiegeln sich gesellschaftliche Anliegen und Fragen, die für die Muslime bis heute
relevant sind. In ein negatives Licht geraten sind die Koranschulen durch den Aufstieg der
Taliban, die in pakistanischen Medresen ihre Ausbildung erfahren haben.
Sucht man nach den Anfängen islamischer Bildung, so muss man zurückgehen bis in die Zeit
Mohammeds und der Offenbarung des Koran. Nach muslimischer Vorstellung hat der Erzengel
Gabriel dem Propheten über Jahre hinweg jeweils ein Stück des Koran vorgetragen, und
Mohammed hat diese Passagen dann an seine Gemeinde weitergegeben. Die gläubigen Anhänger
lernten das Gehörte auswendig und bewahrten den Koran so in ihrem Gedächtnis. Eine
schriftliche Fassung des Koran wurde zu Mohammeds Lebzeiten hingegen nicht erstellt.
Mündliche Wissensvermittlung, wie sie sich in dieser Praxis zeigt, ist für das
islamische Unterrichtswesen bis heute charakteristisch geblieben. Zwei weitere Merkmale
haben islamisches Lehren und Lernen von Anfang an geprägt: der informelle Charakter des
Bildungssystems und die damit einhergehende besondere Bedeutung persönlicher Bindungen.
Mündliche Wissensvermittlung Unterricht war in der islamischen Welt traditionell aufs
Engste mit dem lauten Vorlesen ausgewählter Texte verbunden. Ein Schüler, der seinen
Lehrer aufsuchte, tat dies in erster Linie, um an der Lesung eines Buches teilzunehmen.
Entweder der Lehrer selbst oder aber einer seiner fortgeschrittenen Schüler trug während
des Unterrichts Passagen aus einem Buch vor, die anschliessend gemeinsam besprochen und
diskutiert wurden. In der nächsten Sitzung wurde die Lektüre fortgesetzt, so dass mit
der Zeit das ganze Buch gelesen wurde. Nach Abschluss der Lektüre erhielten die Zuhörer
ein Hörerzertifikat, mit dem sie sich nicht nur als Kenner des entsprechenden
Buches auswiesen, sondern insbesondere belegten, dass sie es zusammen mit einer
autorisierten Persönlichkeit gelesen hatten. Ein solches Zertifikat war Voraussetzung
dafür, dieses Buch später selbst einmal im Unterricht zu verwenden. Auf diese Weise
wurden Bücher nicht bloß als Texte tradiert, sondern es wurde über Generationen hinweg
eine mündliche Brücke der Überlieferung bis zurück zum Verfasser eines Buches
geschlagen.
Private Lektüre und individuelle Studien waren hingegen schlecht angesehen und galten
nicht als adäquates Mittel zum Erwerb von Wissen. Ein Grund hierfür ist darin zu sehen,
dass neben dem reinen Wortsinn auch Aussprache und Betonung weitervermittelt wurden, ein
Bedürfnis, das nicht zuletzt der fehlenden Vokalisierung im Arabischen entspringt. Man
kann das Studium eines Textes daher vielleicht am besten mit dem Einüben eines
Musikstücks vergleichen - ein Bereich, in dem es auch bei uns üblich ist, nicht nur
alleine zu üben, sondern sich nach dem Vorbild eines Meisters zu richten.
Als besonders erstrebenswert galt es, das Gelernte auswendig zu wissen. Idealerweise
prägten sich die Schüler das Gehörte von Unterrichtseinheit zu Unterrichtseinheit ein,
sodass sie den Verlust ihrer Lehrbücher jederzeit hätten verschmerzen können. Besondere
Gedächtnisleistungen wurden mit grossem Respekt bedacht und steigerten das Ansehen eines
Gelehrten; in Gelehrtenbiographien finden sich hierzu immer wieder erstaunliche Berichte.
Persönliche Bindungen
Die herausragende Bedeutung mündlicher Wissensvermittlung brachte es mit sich, dass es
nicht nur wichtig war, welche Bücher man studierte, sondern auch, bei wem man dies tat.
Dies lag zum einen daran, dass die Kommentare und Erläuterungen der jeweiligen Lehrer
einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der Texte bildeten. Die Schüler übernahmen
diese Kommentare und waren zudem darum bemüht, Gestik und Mimik ihres Lehrers
nachzuahmen. Indem man bei bestimmten Personen studierte, wurde man zum anderen zu einem
Glied in der Überlieferungskette der entsprechenden Texte. Je angesehener die
vorangegangenen Autoritäten waren, desto mehr Prestige gewann man daher selbst.
Ein Prophetenwort besagt: Suchet das Wissen, selbst wenn es in China wäre.
Tatsächlich nahmen nicht wenige Gelehrte ausgedehnte Reisen auf sich, um ihre Bildung zu
vervollkommnen. Ziel solcher Reisen waren in der Regel keine Institutionen, sondern
berühmte Persönlichkeiten, deren Lehrzirkeln man sich dann vor Ort anschloss.
Die Bindung an einen bestimmten Lehrer konnte so intensiv sein, dass sie Familienbanden
glich. Manche Schüler zogen es sogar vor, neben ihrem Lehrer, und nicht bei ihrer eigenen
Familie, bestattet zu werden! Der Lehrer galt dabei immer auch als moralische Autorität;
ihm zu widersprechen, war unziemlich. Wie ein Kranker in die Hand des Arztes sollte der
Schüler sich in die Hand des Lehrers geben und ihm selbst dann folgen, wenn er Fehler
beging. Dieser Respekt drückte sich auch in Kleidung und Auftreten aus: Niemals durfte
ein Schüler ungewaschen oder in unreiner Kleidung zum Unterricht erscheinen.
Der individuelle Charakter des Lernens Eine wichtige Folge dieser stark an einzelnen
Autoritäten ausgerichteten Form der Wissensvermittlung bestand darin, dass die Bedeutung
institutionalisierten Unterrichts deutlich in den Hintergrund trat und es kaum von Belang
war, in welchem Rahmen man Lehrveranstaltungen seines Lehrers besucht hatte. Traditionelle
islamische Bildung folgte weder einem Curriculum, noch gab es ein festgelegtes
Einschulungsalter oder für bestimmte Altersstufen vorgesehene Kurse oder Prüfungen. Die
Schüler saßen je nach ihrem Niveau näher oder weiter entfernt von dem Lehrer und
beteiligten sich ihren Fähigkeiten entsprechend an den Diskussionen.
Die Wahl der Kurse richtete sich nach den bereits erworbenen Kenntnissen, deren Stand sich
bei der Besprechung von Texten und in Debatten mit anderen Studierenden zeigte. Selbst
eine Abschlussprüfung gab es nicht; der jeweilige Lehrer entschied, ob ein Schüler weit
genug fortgeschritten sei, und forderte ihn dann dazu auf, sein Können in einem
Streitgespräch unter Beweis zu stellen. Ein Schüler konnte seine Studien jederzeit bei
einem anderen Lehrer fortsetzen; insgesamt konnte die Ausbildung sehr lange dauern.
Die Medrese als Bildungsanstalt Unterricht konnte in der islamischen Welt überall dort
stattfinden, wo Lehrer und Schüler sich zusammenfanden. Primär boten sich hierfür die
Moscheen an. Tatsächlich waren sie in den ersten Jahrhunderten islamischer Zeit die
wichtigsten Ausbildungsstätten. Ab dem 11. Jahrhundert jedoch kam es im Zuge von
Erneuerungsbewegungen im sunnitischen Islam auch zu Veränderungen in der Ausbildung.
Infolge dieser Entwicklungen setzte sich die Medrese (arabisch Madrassa = Ort des Lernens)
als bedeutendste Lehrinstitution durch. Bei einer Medrese handelt es sich um einen
Gebäudekomplex, der nicht nur Unterrichtsräume, sondern auch Unterkünfte für Studenten
und Lehrer beherbergt. Vielfach finden sich ausserdem eine Bibliothek und eine Moschee
sowie das Grab des Stifters. Die zum Teil sehr prächtigen und ausgedehnten Anlagen
prägen das Stadtbild von Kairo bis heute.
Die an einer Medrese angestellten Lehrer wurden regelmässig bezahlt, und auch die
Studenten erhielten ein Stipendium, das ihnen ihr tägliches Auskommen sicherte.
Finanziert wurden diese Institutionen nicht von staatlicher Seite, sondern durch private
Mittel. Reiche Spender richteten hierzu fromme Stiftungen ein (Waqf, Pl. Auqaf). In
Stiftungsurkunden wurden zum einen Ländereien oder Läden bestimmt, deren Einkünfte
fortan für den Unterhalt der Stiftung vorgesehen waren. Zum anderen wurde der genaue
Zweck der Stiftung festgelegt. Der Stifter konnte dabei nicht nur die Zahl der Studenten
und Lehrer benennen, sondern auch über die Unterrichtsinhalte verfügen. Bildungsinhalte
waren somit staatlicher Kontrolle entzogen. Um auf das Bildungssystem Einfluss zu nehmen,
fungierten häufig die Herrscher selbst als Stifter.
Traditionelle Lehrinhalte Wissen war in der islamischen Welt über Jahrhunderte hinweg in
zwei Gebiete getrennt. Auf der einen Seite standen die fremden bzw. übernommenen
Wissenschaften, Disziplinen wie Naturwissenschaften, Mathematik und Philosophie, die die
Muslime vor allem durch den Kontakt mit griechischer Kultur kennen gelernt und dann
weiterentwickelt hatten. Diese Wissenschaften wurden überwiegend im privaten Rahmen
unterrichtet und waren an einer Medrese normalerweise nicht zu finden.
Wiederholen und Weiterentwickeln Ihnen standen die religiösen bzw. islamischen
Wissenschaften gegenüber. Neben Koran, Prophetentraditionen (hadith), Koranexegese und
islamischem Recht zählten hierzu sogenannte Hilfswissenschaften wie Grammatik, Reim,
Morphologie und Lexikologie. Von herausragender Bedeutung waren ausserdem Logik und
Dialektik.
Das besondere Interesse der Muslime an den letztgenannten Disziplinen ist zunächst aus
der Konfrontation mit anderen Religionen, insbesondere dem Christentum, zu erklären, dem
gegenüber man sich intellektuell behaupten musste. Da es im sunnitischen Islam keine
übergeordnete Autorität und keine Hierarchie gibt, war es des weiteren erforderlich, in
innerislamischen Auseinandersetzungen konsensfähige Lehrmeinungen zu finden. Dies geschah
nicht zuletzt durch Disputationen, in denen man seine eigenen Ansichten überzeugend
verteidigte oder seine Kontrahenten widerlegte. Geschicktes und schlüssiges Argumentieren
wurde deswegen in der Medrese eingeübt. Die Schüler lernten Standardantworten auf
umstrittene Fragen auswendig und entwickelten neue, eigene Argumente. Öffentliche
Disputationen zu bestimmten Fragestellungen waren ein beliebter Zeitvertreib; sie fanden
am Kalifenhof, aber auch in privaten Zirkeln statt und dienten unter anderem der
Profilierung von Gelehrten. Gute Kenntnisse der Logik waren aber auch eine Voraussetzung
dafür, das Amt des Mufti auszuüben, denn um ein Rechtsgutachten (Fatwa) zu erstellen,
muss ein Mufti bis heute mittels logischer Operationen unbekannte Fälle auf bekannte
Muster zurückführen und lösen.
Bildung in der islamischen Welt heute Ab dem 18. Jahrhundert, vor allem aber im 19. und
20. Jahrhundert kam es in vielen Teilen der islamischen Welt zu tiefgreifenden Reformen
des Bildungswesens. Vielfach orientierte man sich dabei an europäischen Vorbildern,
gerade im Osmanischen Reich ließ man sich von europäischen Helfern beraten und
etablierte in den Militärakademien ein staatliches Bildungssystem, das in Konkurrenz zur
traditionell religiösen Bildung trat. In Kairo wurde im Jahr 1908 eine Universität nach
westlichem Vorbild eingerichtet, die der religiösen Al-Azhar-Hochschule zur Seite trat.
Staatlich organisierte säkulare Schulen und Universitäten sind in fast allen
muslimischen Ländern heute die maßgeblichen Bildungseinrichtungen; zumeist besteht
zumindest für die Grundschule Schulpflicht.
Neben diesen säkularen Schulen existieren jedoch weiterhin religiöse Schulen. An erster
Stelle sind hierbei Koranschulen für Kinder zu nennen, in denen sie den Koran auswendig
lernen. Aber auch Medresen sind in vielen islamischen Ländern noch zu finden. Die
Unterrichtsmethoden haben, zum Teil durch staatliche Einflussversuche bedingt, leichte
Veränderungen erfahren; eingeführt wurden vor allem Lehrpläne. Bis heute spielen
Medresen beispielsweise in Iran eine wichtige Rolle und dienen dort der Ausbildung zum
Molla (Mullah). In die Schlagzeilen geraten sind in letzter Zeit jedoch nicht die Medresen
in Iran, sondern die im benachbarten Pakistan, wo die Taliban ihre Ausbildung erfahren
haben. Pakistanische Medresen und Taliban
In Pakistan hatte die Regierung nach der Staatsgründung zunächst versucht, Einfluss auf
den Unterricht an den Medresen zu nehmen und ihre Stiftungsgelder zu verstaatlichen. Um
sich dagegen zu wehren, schlossen die Medresen sich zu übergeordneten Dachverbänden
zusammen. Mit der zunehmenden Islamisierung pakistanischer Politik kam es dann zu einer
Übereinkunft: Die Medresen reformierten ihre Lehrpläne und erhielten im Gegenzug
Steuergelder sowie die staatliche Anerkennung ihrer Studienabschlüsse.
Die finanziellen Zuwendungen führten zu einem starken Anwachsen der Medresen,
insbesondere in ländlichen Regionen. Dort wurden sie auch zum Ziel afghanischer
Flüchtlinge, denen sich oft keine andere Ausbildungsmöglichkeit bot. Für die zunehmende
Zahl an Absolventen standen jedoch nicht genügend Arbeitsplätze zur Verfügung; viele
gingen deswegen zum Militär. Militante Gruppierungen entstanden allerdings auch,
innerhalb einzelner Medresen. Sie schlossen sich zum Teil den Mujahedin an, die gegen die
sowjetische Besatzung in Afghanistan kämpften. Zu einem gewichtigen politischen Faktor
wurden jedoch erst die Taliban (wörtl.: Studenten; Einzahl: Talib), die in pakistanischen
Medresen ihre Ausbildungsstätten hatten.
Ihre Verbindung zu den Taliban hat die Medrese bei uns in den Ruf gebracht, der
religiösen Indoktrination zu dienen. Eine solche Ausrichtung entspricht jedoch nicht
ihrem ursprünglichen Geist und ist für Medresen auch nicht charakteristisch. Als ein
wesentliches Merkmal von Medresen heute lässt sich stattdessen viel eher benennen, dass
sie Alternativen zu staatlichen Bildungssystemen anbieten und dabei vor allem deshalb
attraktiv sind, weil sie auf Traditionen zurückgreifen, die in der islamischen Kultur
tief verwurzelt sind.
Eva Orthmann ist Lehrbeauftragte am Orientalischen Seminar der Universität Zürich. Der
vorliegende Text ist am 16.02.2002 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen und mit
Genehmigung der Autorin abgedruckt.