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Begegnungen: "Islam ist Bestandteil Europas" Interview mit Prof. Dr. Faruk Sen über den Islam, Europa und die Rolle
der türkischen Muslime
Die Islamische
Zeitung führt die Debatte über den "Islam in Europa" fort. Unser
Gesprächspartner - Prof. Dr. rer. pol. Faruk Sen - wurde 1948 in der Türkei geboren. Sen
fühlt sich als ein europäischer Türke, als Deutscher mit türkischer Abstammung. Er
leitet seit 1985 das renommierte Essener Zentrum für Türkeistudien. Außer durch seine
Forschungstätigkeit hat Prof. Dr. Sen sich einen Namen durch verschiedene Publikationen
gemacht. Im IZ-Interview fragen wir ihn nach seiner Meinung über die Realitäten des
"Islam in Europa".
Islamische Zeitung: Wie haben Sie den Islam in Ihrem Leben erfahren? Gibt es für Sie
Schlüsselerlebnisse, positive wie negative?
Prof. Sen: Ich bin bei einer ganz frommen Familie groß geworden, bei beiden
Großelternteilen, und den Islam habe ich durch meinen Großvater väterlicherseits
kennengelernt. Er hat mir über den Islam während meiner Kindheit erzählt. Mein
Schlüsselerlebnis mit dem Islam war, dass ich zwei mal Konya besuchte, und dort die
islamische Philosophie von Maulana Dschelaleddin Rumi kennengelernt habe.
Islamische Zeitung: Herr Prof. Sen, fühlen Sie sich selber als Türke oder als Europäer?
Prof. Sen: Ich fühle mich als ein europäischer Türke, als Deutscher mit türkischer
Abstammung. Und da ich in Istanbul aufgewachsen bin, bin ich auch europäisch geprägt.
Ich würde sagen, dass die Türken auch Europäer sind, und ich gehe davon aus, dass der
Islam ein Bestandteil Europas ist.
Islamische Zeitung: Sie haben in einer Publikation den Begriff Volksislam
verwendet. Ist das nicht in sich, ganz wertfrei betrachtet, ein irreführender Begriff?
Denn entweder praktiziert man den Islam als Muslim, oder eben nicht.
Prof. Sen: Den Begriff Volksislam würde ich nicht verwenden, sondern den Begriff kultureller
Islam, das heißt den Islam als Philosophie voll zu akzeptieren, sich dem
islamischen Glauben zugehörig zu fühlen, aber nicht unbedingt alle fünf Säulen des
Islam voll zu erfüllen. Das heißt, dass sie vielleicht nie die Möglichkeit haben werden
oder nicht wert darauf legen, einmal zur Hadsch nach Mekka zu gehen, oder dass sie auch
nicht fünf mal am Tag beten können, dass sie aber trotzdem als Angehörige des Islams
möglichst nach den Regeln des Islam zu leben versuchen. Das ist für mich kultureller
Islam.
Islamische Zeitung: Es gibt natürlich gerade in der Publizistik auch den Versuch zu
sagen, Wir haben hier den kulturellen oder Volksislam - das sind die Netten, und
dann haben wir die praktizierenden Muslime, wobei zumindest einige Autoren
versuchen, diese in eine bestimmte Ecke zu stellen. Ist es nicht eine Gefahr, dass
irgendwann jeder Muslim, der betet oder fastet, mit einem spezifischen Etikett versehen
wird?
Prof. Sen: Es ist schön für einen Muslim, wenn er alle Regeln des Islam voll erfüllen
kann. Aber in der Industriegesellschaft ist dies schwer, nicht nur in Deutschland, auch in
Industrieregionen in der Türkei. Aus der Türkei kommen ja die meisten Muslime in
Deutschland, die können auch in der Türkei nicht alle Regeln des Islam praktizieren. Man
soll die Muslime, die diese Regeln nicht voll erfüllen, nicht vom Islam ausklammern.
Islam ist eine Religion der Toleranz. Man sollte gegenüber denen, die den Islam voll
praktizieren, volle Toleranz und Verständnis zeigen, aber von muslimischer Seite auch
denen gegenüber Toleranz zeigen, die den Islam zwar als Religion voll akzeptieren, aber
nicht voll danach leben.
Islamische Zeitung: Herr Prof. Sen, Günter Verheugen hat unlängst in der Türkei
festgestellt, dass der Islam schon immer zur europäischen Geschichte gehört hat. Stimmen
Sie dem zu?
Prof. Sen: Dem stimme ich absolut zu. Der Islam ist eine der Weltreligionen. Der Islam hat
während des Osmanischen Reiches auch Toleranz gezeigt, und währenddessen auch nicht
missioniert. In Bosnien zum Beispiel haben die Menschen freiwillig den Islam angenommen.
All die anderen, vor allem Christen, haben vielleicht ein anderes Steuerrecht gehabt, sind
vielleicht wirtschaftlich etwas benachteiligt gewesen, dafür hat man ihnen aber absolute
wirtschaftliche und politische Freiheiten gegeben. Daher unterstütze ich den Satz von
Günther Verheugen voll.
Islamische Zeitung: Glauben Sie an die EU-Mitgliedschaft der Türkei, und wenn ja, unter
welchen Voraussetzungen?
Prof. Sen: Ich glaube hundertprozentig an die EU-Mitgliedschaft der Türkei. Ich glaube
nicht, dass die christdemokratischen Parteien mit ihren Vorstellungen recht haben, dass
die Europäische Union eine christlich-abendländische Gesellschaft sei, denn die
Europäische Union hat gemäß den Römischen Verträgen ganz andere Grundzüge. Diese
Verträge zeigen ganz eindeutig, dass all die Staaten, die an Europa grenzen und
demokratisch regiert werden, ein Bestandteil der Europäischen Union sein können, wenn
sie die Kopenhagener Kriterien erfüllen. Die Türkei bemüht sich sehr stark, diese
Kriterien zu erfüllen. Europa ist auch keine christlich-abendländische Gesellschaft
mehr, denn innerhalb der EU leben zur Zeit 14 Millionen Muslime. Daher gehe ich davon aus,
dass die Türkei spätestens, wie Günther Verheugen gesagt hat, im Jahre 2011 Mitglied
der EU wird. Ich bin sogar optimistischer, vielleicht wird es der Türkei gelingen, mit
Bulgarien und Rumänien zusammen zwischen 2007 und 2010 Mitglied der EU zu werden.
Islamische Zeitung: Worin besteht aus Ihrer Sicht das Haupthindernis einer
EU-Mitgliedschaft der Türkei?
Prof. Sen: Haupthindernis ist, dass einige Denker wie Giscard DEstaing, Helmut
Schmidt oder auch einige christdemokratische Parteien Europa noch als eine
christlich-abendländische Gesellschaft sehen, und die Türkei deswegen ausklammern. Wenn
man der Türkei Vorwürfe macht, dass die türkische Demokratie nicht funktioniert, oder
Menschenrechtsverletzungen bestehen, die wirtschaftliche Situation nicht geeignet ist,
dann habe ich dafür volles Verständnis. Aber das sind alles Variablen, die in der
Türkei geändert werden können. Die Türkei erfüllt derzeit die Maastrichter Kriterien
auf wirtschaftlicher Ebene noch nicht, im Bereich der Kopenhagener Kriterien muss das
türkische Parlament noch verschiedene Hausaufgaben machen, aber ich bin ganz sicher, dass
die Türkei dies ziemlich schnell tun wird. Man kann aber nicht, wie Giscard DEstaing
es im Konvent getan hat, äußern, dass christlich-abendländische Elemente in der Türkei
fehlten, denn die Türkei wird für die EU nicht christlich werden, sie wird weiterhin zu
99% muslimisch bleiben.
Islamische Zeitung: Ist es nicht eine Ironie der Geschichte, dass anhand der Frage der
EU-Mitgliedschaft der Türkei auch gewisse Gräben verschoben wurden? Denn zur Zeit hat
man den Eindruck, dass die AK-Partei zu den treibenden Kräften für eine
EU-Mitgliedschaft gehört.
Prof. Sen: Ich stehe der Politik der AK-Partei in der Türkei nicht nahe. Ich bin
sozialdemokratisch eingestellt, aber in einem Punkt muss ich sagen: Tayyip Erdogan und
seine Partei bemühen sich hundertprozentig um die EU-Mitgliedschaft. Tayyip Erdogan hat
als Vorsitzender kurz nach den Wahlen im November 2002 in sechzehn Tagen vierzehn
EU-Staaten besucht und für die türkische Mitgliedschaft geworben. Ich bin ganz sicher,
dass die gegenwärtige Regierung, auch mit Abdullah Gül als Außenminister, bis Ende
August alle wichtigen Reformen im Parlament verabschiedet haben wird. Ich bin
zuversichtlich, dass die AK-Partei, die eine Zweidrittelmehrheit im Parlament hat, es
ernst meint mit der EU-Mitgliedschaft der Türkei. Jetzt ist die EU im Zugzwang. Man muss
beim Versprechen von Helsinki 1999, wo der Türkei ein Kandidatenstatus zugesagt wurde,
aber auch bei dem Versprechen und dem völkerrechtlichen Vertrag des Kopenhagener
Gipfeltreffens vom Dezember 2002 bleiben und der Türkei diese Chance reell geben.
Islamische Zeitung: Stichwort Tayyip Erdogan, man nennt ihn ja manchmal etwas salopp
formuliert einen modernen Politiker mit Laptop und Gebetsteppich. Haben sie
Erwartungen an die neue türkische Regierung?
Prof. Sen: Es gibt einige gute Tendenzen. Erdogan will den Zypern-Konfikt möglichst bald
lösen und in der Türkei für den wirtschaftlichen Aufschwung einen Beitrag leisten. Und
ich muss sagen, das türkische Parlament, nicht nur Tayyip Erdogan, sondern alle
türkischen Parlamentarier haben beim Irak-Krieg richtig entschieden. Weil 93% der Türken
gegen den Krieg waren, haben sie sich gegen die USA gestellt. Zwar wird die Türkei jetzt
von der USA bestraft, aber damit hat sie gezeigt, dass sie genauso europäisch ist wie
Deutschland und Frankreich. Man muss die Menschen nach ihren Taten messen.
Islamische Zeitung: Die große Mehrheit der Muslime Deutschlands ist türkischer Herkunft,
in den letzten Jahrzehnten bestand unter ihnen noch eine starke Bindung an die Türkei.
Meinen Sie, dass es in absehbarer Zeit eine Emanzipation vom türkischen Einfluss und eine
Hinwendung zu Deutschland geben wird?
Prof. Sen: Von 2,6 Millionen türkischstämmigen Muslimen haben 700.000 schon die deutsche
Staatsangehörigkeit. Sie haben jetzt eine ganz neue Identität. Die neuen Deutschen mit
türkischer Abstammung üben eine kritische Loyalität dem neuen Staat gegenüber. Aber
sie üben auch eine kritische Solidarität mit ihrem früheren Heimatland, und sie wollen,
dass die Türkei Bestandteil der Europäischen Union wird. Bei der dritten und vierten
Generation stelle ich fest, dass ihre Kenntnisse über Deutschland und die deutsche
Sprache besser sind als die über die Türkei. Natürlich ist die Türkei auch nah, denn
jährlich verbringen über 1 Million Türken ihren Urlaub in der Türkei, es gibt neun
türkische Tageszeitungen in Deutschland, 91% der türkischen Haushalte können über
Satellit oder Kabel türkisches Fernsehen empfangen. Daher ist natürlich eine Bindung zur
Türkei gegeben, dennoch sind sie Deutsche oder Europäer, die ihre türkische Herkunft
nicht leugnen, aber eine absolute Loyalität gegenüber der deutschen Verfassung und dem
deutschen Staat ausüben.
Islamische Zeitung: Wie schätzen Sie die aktuelle Stimmungslage der Muslime in
Deutschland ein?
Prof. Sen: Man muss davon ausgehen, dass man seit 1990 nicht nur in Deutschland, sondern
in ganz Europa Vorbehalte gegen den Islam hat, seit die kommunistischen Staaten als
Feindbild nicht mehr existieren. Aber die Menschen brauchen neue Feindbilder. Durch die
FIS in Algerien, durch die Muslimbrüder in Ägypten, durch die Taliban in Afghanistan,
durch Khomeini in Iran und Milli Görüs in der Türkei hat man den Islam als Feindbild.
Und ab dem 11. September ist eine neue Distanz gegenüber Muslimen aufgekommen. In
Deutschland leben 3,45 Millionen Muslime. Von ihnen sind 99% loyal gegenüber dem
deutschen Staat. Ob sie ihre Religion mehr oder weniger praktizieren, sie haben mit
Extremismus nichts zu tun. Es gibt natürlich, wie in jeder Religion, fundamentalistische
Elemente. Man soll aber nicht von einigen extremistischen islamischen Organisationen auf
den gesamten Islam reflektieren. Zur Zeit gibt es eine Hemmschwelle gegenüber dem Islam,
aber ich hoffe, dass es besser wird.
Islamische Zeitung: Wie würden Sie die aktuelle Rolle muslimischer Organisationen und
Institutionen in Deutschland sehen?
Prof. Sen: Der Islam kennt eigentlich keine Organisationen nach kirchlichem Vorbild. Der
türkische Islam wird in Deutschland von elf Organisationen vertreten. Aber als Vertreter
des Islam in Deutschland sehe ich keine der etablierten Organisationen. Meiner Ansicht
nach kann der Zentralrat der Muslime nicht für den Islam sprechen, weil ihm nur 20.000
Gemeindemitglieder angehören. Der Islamrat vertritt vielleicht 30.000 Muslime. Wir haben
aber fast 3,5 Millionen Muslime in Deutschland. Meiner Ansicht nach wäre eine
proportionial besetzte Arbeitsgemeinschaft, die für die Muslime sprechen kann, am besten.
So wie es in Frankreich einen Rat der Muslime gibt, der sich ebenfalls nach der Stärke
der Organisationen zusammensetzt. Dies ist meiner Meinung nach der einzige demokratische
Weg, denn ich gehe davon aus, dass kein einziger türkischer Muslim sich durch den
Zentralrat vertreten fühlt, und nur sehr wenige türkische Muslime durch den Islamrat.
Wer vertritt z.B. die 600.000 türkischen Muslime, die sich DITIB zugehörig fühlen?
DITIB ist eine vom türkischen Staat gesteuerte Organisation und kann daher nicht als
Migrantenorganisation gesehen werden.
Islamische Zeitung: Was kann das Zentrum für Türkeistudien forschend oder beratend für
die Muslime in Deutschland beitragen?
Prof. Sen: Wir haben gerade für die EU eine Studie zum Euro-Islam
abgeschlossen. Der Begriff ist natürlich irreführend. Es gibt 56 islamisch geprägte
Staaten auf der Welt mit 1,2 Milliarden Menschen. Natürlich ist der Islam einheitlich, es
gibt nur einen Islam. Aber der Islam nimmt auch die kulturellen Gegebenheiten des
jeweiligen Landes auf. Wie man in Senegal den Islam lebt und wie im Iran, ist ganz
verschieden. Es gibt in Europa auch eine neue Form des Islam. Die Muslime in der
Europäischen Union leben nach den Normen der industriellen Leistungsgesellschaft. Sie
sind absolut loyal zu den Verfassungen der Staaten, in denen sie leben. Sie haben die
Demokratie voll akzeptiert, und Pluralismus ist ein Bestandteil ihrer Lebensphilosophie
geworden. Sie sind mehr säkulare Muslime und leben nicht voll nach den Normen der
Scharia, das ist eine neue Entwicklung. Die europäische und die deutsche Gesellschaft
muss sich darauf vorbereiten und die entsprechenden Schritte unternehmen. Ein weiterer
Schritt, an dem wir zur Zeit in Zusammenarbeit mit der Landesregierung arbeiten, ist der
islamische Religionsunterricht an Schulen in Nordrhein-Westfalen. Dieser soll in deutscher
Sprache stattfinden und innerhalb der regulären Unterrichtszeiten. Es soll eine
Curriculum-Entwicklungsgruppe geben, bei der Vertreter der Regierung und der Ministerien,
Migrantenvertreter sowie Experten aus den Herkunftsländern mitwirken. Und wir setzen uns
dafür ein, dass in Nordrhein-Westfalen Lehrstühle zur Ausbildung von Lehrkräften für
den islamischen Religionsunterricht eingerichtet werden, damit die Lehrer, die hier
islamischen Religionsunterricht geben, nicht aus den Herkunftsländern kommen, sondern es
sollen junge Studenten sein, Türken, Araber oder andere, die hier groß geworden sind.
Wir haben hier in NRW 31.000 türkischstämmige Studenten. Davon studieren 6.000 Jura,
womit sie keine Berufsperspektive haben. Warum sollen davon nicht 300 oder 400 den
Studiengang Islamwissenschaften studieren und hier als Lehrer tätig sein?
Islamische Zeitung: Herr Prof. Sen, wir bedanken uns für das Gespräch.
Quelle: Islamische Zeitung
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