Essay: Was ist der europäische Islam?Über Debatte und Substanz eines Begriffs - Von Abu Bakr Rieger |
Nach den Attentaten am 11. September hat in Europa eine
kritische - leider oft genug auch polemische Auseinandersetzung über den Islam begonnen.
Die Medien Europas haben in einer bisher unbekannten Intensität über den Islam und die
Muslime berichtet. In vielen Beiträgen scheint aber eher die Absicht des Autors als eine
vorurteilsfreie Betrachtung des Islam durch. Hinzu kommen die abstrusen Wortmeldungen
Usama Bin Ladins, die zwar auf einschlägige islamische Rhetorik setzen und
den Islam in der Öffentlichkeit nicht unwesentlich besetzen, gleichzeitig aber für
Muslime ohne jede verbindliche theologische Substanz sind. Dennoch könnte damit der
fatale Eindruck im Westen verstärkt werden, der verbrecherische Bin Ladin könnte etwa
eine Art geheimes Sprachrohr oder eine geistige Instanz der Muslime sein. Nicht immer
findet hierbei ausreichend Beachtung, dass bei über einer Milliarde Muslime die Quote der
Bin Ladin - Anhänger ganz offensichtlich verschwindend klein ist. Fakt ist, es gab zu keinem Zeitpunkt in der islamischen Welt eine Bin Ladin - Welle. Paradoxerweise scheint sich der selbsternannte Rächer der Palästinenser in islamischen Fragen auch nicht so recht auszukennen, sonst wäre ihm der mangelnde Rückhalt ein mahnendes Indiz, dass er zum Ausruf des vielbesungenen Dschihad nach islamischem Recht nie berechtigt war. Unsäglich bleibt auch die arrogante Ignoranz angesichts tausender Opfer in Afghanistan, die der unselige Gast für das Land mitverursacht hat. De facto stehen der saudische Ex-Millionär und seine geistige Gefolgschaft nun eher für den traurigen Niedergang der islamischen Lehre - und leiten das Ende der jahrzehntelangen unbefragten Vorherrschaft des arabischen Islam ein. Zu offensichtlich hat die bisher arabisch dominierte Lehre nach einem Jahrhundert der ideologischen und geistigen Einfälle - vom Kommunismus über den Nationalismus bis hin zum Kapitalismus - die Übersicht verloren. So ist Bin Ladin natürlich auch ein typisches Kind derjenigen modernen arabischen Ideologie, die im Palästinenserkonflikt sozusagen die letzte Schicksalfrage aller Muslime zu glauben sieht. Die finale Forderung Bin Ladins nach einem Kleinstaat Palästina - für den er bereit ist, tausende Amerikaner und hunderte Muslime zu ermorden, ist von einer zugegebenermaßen erschütternden und einmaligen Banalität. So ist die Frage nach einem europäischen Islam nicht zuletzt auch gebunden an eine notwendige Abkoppelung bisher unbefragter arabischer Vorherrschaft in theologischen Fragen. Die Beherrschung der arabischen Sprache und ein orthodoxes Äußeres war zu lange ein Indiz, es mit einem Gelehrten zu tun zu haben. Offensichtlich begnadet die arabische Herkunft nicht zur Lehre, offensichtlich schützt der originäre Zugang zur arabischen Sprache nicht vor Verirrung. Man vermisst tatsächlich bis heute einen Aufschrei der lange Zeit arabisch dominierten islamischen Lehre über die Doktrin der al-Qaida, aber auch eine Klarstellung über die wahre Aqida und ihre Inhalte. Besonders fatal ist die mangelnde kritische Auseinandersetzung der islamischen Lehre mit dem Phänomen des orthodoxen Wahabismus und mit den nihilistischen Selbstmordattentaten, die den grundsätzlich legitimen Charakter islamischer Selbstverteidigung pervertiert haben. Hierbei geht es nicht um die moralische Frage, ob ein Wahabi auch nett sein kann, oder ob ein Selbstmordattentat verständlich ist, sondern allein um Verbindlichkeit und Kern islamischer Glaubensregeln. Beide genannten Phänomene haben den Islam gerade in Europa tief diskreditiert. Dies hat natürlich mit dem profanen Umstand zu tun, dass ein guter Teil der weltweit aktiven muslimischen Lehrerschaft schlicht am arabischen Tropf hängt. Das sprichwärtliche wessen Brot ich ess, dessen Lied ich sing gehört zu den überkulturellen Einsichten in diesen Dingen. Natürlich ist und war der Blickwinkel europäischer Muslime ein Besonderer. Schon weit vor dem 11. September ist der wahabistische Islam in Bosnien und ganz Südosteuropa gescheitert, denn natürlich waren vor allem die muslimischen Europäerinnen für den Islam wahabistischer Lesart und zu der Pervertierung der Sunnah des Propheten nie zu gewinnen. So gehören heute die bosnischen Moscheen in der Welt zu den Orten, wo Frauen nicht nur Zugang haben, sondern auch das Klima mitprägen. Natürlich ist auch die wesentliche und tragische Veränderung des 2. Tschetschenienkriegs durch wahabitische Söldner und Selbstmordattentäter dem islamischen Europa nicht entgangen. Vor allem aber ist dem europäischen Islam und Intellekt nicht verborgen geblieben, dass der Wahabismus eine extreme und radikale Geisteshaltung in Frauenfragen und äußerer Moral darstellt - aber in Wirtschaftsfragen wiederum äußerst amoralisch, man könnte auch sagen skrupellos - daherkommt. Hier liegt natürlich auch bis zu den späten 90er Jahren die Wurzel der merkwürdigen Allianz amerikanischer Erdölgiganten mit den Taliban. Warum konnte die arabische Lehre, gelähmt von der bedeutungslosen Doktrin allgemeiner und immerwährender Brüderschaft - die ja über Jahrhunderte von brillianten Theologen geprägt war - uns nicht vor diesen Verwirrungen schützenä Will man die etwaige Berechtigung eines europäischen Islam weiter vertiefen, so wird man zunächst feststellen, dass der Beitrag europäischer Muslime von einem spezifischen Wissens- und Erfahrungshorizont begleitet ist. Natürlich sind europäischen Muslimen die Religionskriege, die Schiller so meisterhaft beschreibt, die Aufklärung und ihre immanente Relativierung der Wahrheit, die Staats- und Verfassungsgeschichte, die Ideologien Hitlers und Stalins und das Ereignis der Technik nicht entgangen. Natürlich haben Muslime in Europa in einer funktionierenden Wohlstandsgesellschaft und in einer durch Freiheitsrechte gekennzeichneten Demokratie andere persönliche Erfahrungen hinter sich wie ein Muslim, der in Kaschmir oder Palästina aufgewachsen ist. Europäische Muslime haben aber auch die Greuel von Srebrenica und den Genozid an über 200.000 gläubigen Bosniern betrauert und erduldet. Das Bild des angeblich agressiven Islam ist angesichts muslimischer Opfer für den europäischen Islam insofern - weiä Gott -unhaltbar. Dennoch haben diese schmerzlichen europäischen Erfahrungen nicht zu einer vergleichbaren politischen Radikalisierung der europäischen Muslime geführt - wohl auch deswegen, weil aus der Sicht Europas heraus die alten und archaischen Freund-Feind Konstellationen intellektuell untragbar geworden sind. Eine wichtige Einsicht: Wer an was Schuld hat oder wer für was kausal war, die personale Bestimmung des Feindes also, lässt sich in der heutigen Zeit nicht mehr so einfach beantworten. Die Achse des Bösen lässt sich aus muslimischer Sicht eben nicht an Nationen knüpfen. Ein Wandel der alten Feindbilder ist für den europäischen Islam essentiell, genauso wichtig wie die Wachsamkeit, nicht wieder zum Sündenbock oder zum angeblichen inneren Feind der europäischen Gesellschaften zu werden. Um auf den Punkt zu kommen: es scheint, dass der europäische Islam im Gegensatz zu anderen Weltgegenden sich gerade durch ein geläutertes Verhältnis zur Politik - und damit zur Nation und zur Souveränität kennzeichnet. Nationales Bewusstsein hat heute in Europa paradoxerweise einen weitaus geringeren Stellenwert, als in der restlichen islamischen Welt. So ist - entgegen der inneren Intention des Islam - nationale Souveränität immer noch das antiquierte Ideal von Millionen Muslimen. Demzufolge streitet der politische Islam und der Islamismus noch mit Vorliebe für Nationalstaaten, die wiederum in ihrer verfassungsrechtlichen Realität einfache Kopien der westlichen Vorbilder sind. Sind diese Staaten tatsächlich etabliert, sinkt die Bedeutung des Islam recht schnell auf eine rigide Staatsmoral herab. In der Alltäglichkeit stellt sich ein moderner Islamist seinen islamischen Staat als eine Art kapitalistische Schweiz mit strikter Sexualmoral und Alkoholverbot vor. Ganz nach der Clausewitzschen Logik ist aber Krieg und Terror der immer mägliche Abgrund des auf das Politische reduzierten Islam, insbesondere wenn die politischen Ziele eben nicht erreichbar oder gar aktiv verhindert werden. Die islamistische Partei, Träger seiner Hoffnungen, wiederum gibt in einer recht weltlichen Logik vor (ohne es zu wissen ganz Nietzsche), dass durch die Bündelung des Willens ihrer Mitglieder die politischen Ziele umgesetzt und gemacht werden können. Dass Macht organisierter Wille ist - für einen geschichtsbewussten Europäer eine gefährliche These. Die Frage stellt sich daher auch den Muslimen - welche nationale oder hyperislamische Partei programmatisch oder inhaltlich das humane Desaster des digitalen und globalen Kapitalismus eigentlich reformieren könnteä Was man in Europa weiß, ist, dass die postmoderne Welt komplizierter und die Möglichkeiten menschlicher Souveränität weiß Gott geringer geworden. Merkwürdigerweise sind eher die Europäer in der Lage zu sehen, dass die Technik, insbesondere die Finanztechnik in der Postmoderne zu einer Art Schicksal aufgewertet worden ist. Die Krise des europäischen Geistes ist gerade die Erfahrung seiner eigenen politischen Ohnmacht inmitten dynamisch fortschreitender Prozesse der Sachzwänge. Der Glaube an die Macht der Technik, überhaupt der Glaube an die allgemeine und endlose Machbarkeit des Fortschritts ist heute in der islamischen Welt weiter verbreitet als in Europa selbst. Das Problem des entfesselten Kapitalismus und der damit verbundenen Entpolitisierung der politischen Sphäre wird wohl heute eher in Berlin oder in Paris, als in Dubai oder Kuala Lumpur als bedrohlich erfahren. Die Grünen, Umweltbewusstsein, Datenschutz, Attac oder Globalisierungskritik sind Phänomene, der ein Grossteil der islamischen Welt recht bezuglos gegenübersteht. Geschweige denn wird heute eine grundsätzliche Kritik am Kapitalismus überhaupt durch Muslime definiert. Mit den Worten Martin Heideggers gesprochen: der eigentliche Wandel beginnt niemals von der Peripherie. Stellen wir also zunächst fest: der europäische Islam ist neben seinen besonderen geschichtlichen Erfahrungen geistig dadurch geprägt, dass er zwei fundamentale und faszinierende Erfahrungshorizonte miteinander vereint: europäische Erfahrung und islamische Offenbarung.Wegen dieses Erfahrungsvorsprungs ist der Blickwinkel des europäischen Islam zwischen Offenbarung und geschichtlicher Erfahrung in der islamischen Welt überhaupt relevant. Mit diesem neuen Selbstbewusstsein können sich europäische Muslime auch leicht des Verdachts erwehren, der europäische Islam sei nur eine banale Verwässerung des wirklichen Islam. Natürlich ist auch in Europa die Gefahr eines politisch extremistischen Islam - zumeist als Ventil frustrierter Massen - nicht von der Hand zu weisen. Die allgemeine Demokratieunfähigkeit des Islam, vor allem des europäischen Islam, davon abzuleiten, geht dennoch gewiss fehl. Im übrigen - auch dies wird ja gerne bei der aktuellen Islamismus-Debatte übersehen - birgt bereits die aktuelle reale Entwicklung -ganz ohne Muslime - die Gefahr der schleichenden Entdemokratisierung der westlichen Systeme. Unsere Väter des Grundgesetzes hatten die totale Herrschaft von Medien, Kapital und Parteien - vor allem aber die Schaffung globaler Konzerne mit dem Machtspielraum alter Nationen kaum vorhersehen können. Diese neue Situation der Globalisierung schafft nun aber eine ungeheure Herausforderung für das demokratische Selbstverständnis. Ein besorgter Verfassungsschützer oder ein V-Mann, der nicht nur über böse Muslime, sondern auch über Aktivitäten von Energieriesen oder Grossbanken berichtet, wäre eine angenehme und zeitgemässe Neuerung. Die verfassungsrechtlich wirklich brennende Frage, ob und wie man einen globalen entfesselten Kapitalismus und, wie Arundathi Roy formuliert marodierende Multis eigentlich überhaupt noch demokratisch begrenzen kann, wird ja kaum noch gestellt. Ist das neue Feindbild der Islamisten - des neuen inneren Feindes, der die Demokratie gefährdet, bei allem Problembewusstsein nicht auch insoweit ein Ablenkungsmanöverä Gar eine Verschwörungstheorieä Da europäische Muslime auch die Erfahrungen der Opfer dieser Entwicklung von Asien bis Afrika solidarisch teilen, werden sie aber genau diesen Fragen nach der künftigen Legitimität des globalen Kapitalismus substantiell stellen. Ob die äkonomie ein Schicksal geworden ist, ist eine Frage, die sich Muslime und Nicht-Muslime stellen. Hier scheidet sich auch Glaube und Unglauben. Es ist interessant, dass die Attac - Bewegung, die die ökonomischen Verhältnisse ja brillant schildert und mit der noblen Unbestechlichkeit von Parteilosen analysiert, als pfiffigen Slogan die Globalisierung ist kein Schicksal gewählt hat. Das ist der einzige Punkt, den ich als Muslim nicht unterschreiben könnte - denn die Globalisierung ist - aus meiner Sicht - zweifellos die schicksalhafte Vollendung des europäischen Denkens. |
Ernst Jünger hat schon in den frühen
50er-Jahren die unausweichliche Notwendigkeit des Weltstaates vorausgesehen und die
Möglichkeiten der politischen Revolte gegen das Aufkommen dieses Gebildes pessimistisch
beurteilt. Selbst die extremste Form der Revolte, der Terrorimus, hat das Aufkommen des
Weltstaates letztendlich eher beschleunigt als verhindert. Es ist kein Zufall, dass die
weltstaatliche Realität dort am frühesten erfahren wird, wo sie gestiftet wurde: in
Europa. Die Bedingung der Aufgabe nationaler Empfindung, die Nutzung lokaler Freiheit,
aber auch die Notwendigkeit, der kulturellen und sozialen Verödung entgegenzuwirken,
könnte Muslime und Nicht-Muslime in Weltstaatszeiten durchaus verbinden. Islamisches Stfitungswesen, das ja florieren könnte, wenn - salopp gesagt
- das Geld im Lande bliebe und islamisches Wirtschaften kännten die Gesellschaft
nachdrücklich bereichern. Wo immer der Islam sich im positiven Sinne etablieren konnte,
waren es die Stiftungen und freien Märkte, die den eigentlichen Herzschlag der
islamischen Zivilisation ausmachten. So gesehen kann das islamische Modell mit und ohne
Staat funktionieren. Bundestagspräsident Thierse hat den Ruf nach einem europäischen Islam
mit dem Lernen aus der Aufklärung und dem Gebot der Toleranz verbunden. Das setzt die
Vorstellung von einem irrationalen und intoleranten Islam bereits voraus. Dennoch könnte
man ja schnell zustimmen: nur, bedeutet Toleranz im aufgeklärten und europäischen Sinne
wirklich auch die weitere Tolerierung des furchtbaren Tschetschenienfeldzugesä Hat die
deutsche Regierung nicht zur Entwertung dieser hehren Begriffe immer wieder selbst
beigetragenä Tolerieren wir Herrn Putin - oder ziehen wir zumindest eine vorsichtige
Distanz vorä Quelle: Islamische Zeitung |