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Tausende Deutsche finden den Islam. Warum nur? Eigentlich gibt es darauf nicht nur eine Antwort.
Von Khalil Breuer, Berlin

(iz) Warum sind Sie Muslim geworden? So oder ähnlich wird man als deutscher Muslim heute in vielen Gesprächen gefragt. Die Vorstellung über das Leben der Muslime aus den Medien zeigt sich dabei als nicht immer deckungsgleich mit der Realität, die man allein erfährt, wenn man mit Muslimen selbst spricht. Nach Angaben des Islam-Archivs in Soest waren es immerhin 4.000 BürgerInnen dieses Landes, die sich in 2005 für den Islam entschieden. Die Zahl dürfte eher untertrieben sein, da nur ein Teil der Moscheegemeinden und islamischen Zentren sich an der Umfrage beteiligt haben. Die Gründe für eine solche Entscheidung sind unterschiedlich, reichen von einer Bekanntschaft mit einem muslimischen Mädchen oder Jungen bis hin zu tiefgründigen philosophischen Erfahrungen.

Das Interesse am Islam ist nicht ohne Vorbilder. „Wenn Islam Gottergebenheit heißt, so leben und sterben wir alle im Islam“ - mit diesen Worten hat ja schon der Dichterfürst Goethe das Tor zum Islam auch für seine Landsleute weit aufgestoßen. Die deutschen Muslime bestätigen den Aufschrei Nietzsches, dass es keinen Gott gebe, mit - Ironie der Geistesgeschichte - ihrer Ergänzung „außer Allah“. Der Islam ist für viele deutsche Muslime nicht etwa der Feind des europäischen Denkens, schon eher eine geheimnisvolle Quintessenz! Der Islam befreit den Intellekt zudem von der schwer zu denkenden Doktrin der Trinitätslehre. Zweifellos zeigt sich die Defensive des europäischen Christentums gerade in dem so geschichtlich paradoxen wie alltäglich hilflosen Hinweis, der Islam sei fremd, allein das Christentum europäisch.


Der Umgang mit deutschen Muslimen klärt auch ein weit verbreitetes Missverständnis auf: Der Islam bringt Kulturen hervor, ist aber selber keine. Natürlich kann man Krawatte tragen, Beethoven hören, Rilke verehren, den Bayern zujubeln, aber eben doch Muslim sein. Dies schließt natürlich genauso wenig aus, dass man am Abend in seiner Wohnung auf marokkanischen Teppichen „Tschai“ trinkt. Notwendig sind solche nach Außen sichtbaren kulturellen Umbrüche jedoch nicht. Gerade deutsche Muslime und natürlich auch deutsche Muslimas erkennen den Unterschied zwischen verbindlicher Glaubenspraxis und kulturellen Gewohnheiten.


War es vor Jahren noch schwierig, die Relevanz des Islam oder von Religion überhaupt zu vermitteln, so ist der Islam heute in aller Munde. Die meisten Gesprächspartner sehen dabei durchaus, dass der Islam nicht durch periphere Einzelbeispiele oder extreme Außenseiterpositionen erfasst werden kann. Auch die Gefahr, dass die neue Gegnerschaft zum Islam propagandistisch den Kommunismus als Feindbild ersetzen könnte, ist vielen bewusst. Das konservative Spiel, die eigene zerronnene Substanz durch ein stammtischgerechtes Gegenbild wiederzugewinnen, wird zunehmend hinterfragt, und nur 15 Prozent aller Befragten, so eine Umfrage, glauben wirklich an einen angeblich bevorstehenden „Clash der Zivilisationen“.


Die größte Kluft für den am Islam Interessierten ist vielleicht, zu akzeptieren, dass der Islam kein System ist, sondern eine Lebenspraxis. Den Islam und sein Regelwerk kann man nicht wie eine Straßenverkehrsordnung studieren. Je nach Region und Zeit ist das kulturelle und soziale Verhaltensmuster der Muslime durchaus unterschiedlich, wenn auch die Kernsubstanz des Glaubens, wie zum Beispiel die berühmten fünf Säulen des Islam, über Jahrhunderte die unveränderlichen Grundlagen des islamischen Lebens bilden. Bestimmte Glaubensgrundsätze, wie das Verbot der Zinsnahme, können eine besonders aktuelle Bedeutung bekommen. Um die Muslime wirklich zu verstehen, muss man also in erster Linie den Konsens, nicht die Extreme studieren.

Es gibt, wenn man so formulieren will, viele Wege nach Mekka, und es wird wie gesagt keine vollständige Auflistung der Beweggründe, sich mit dem Islam zu beschäftigen, gelingen können. Offensichtlich ist allerdings, dass der Islam immer mehr EuropäerInnen anspricht. Es ist interessant, herauszufinden, welche überzeugenden Antworten der Islam auch heute noch zu geben vermag und wie er den europäischen Intellekt immer wieder ansprechen kann. Manches kann man dabei in Worte fassen, manches auch nicht. Was mit einem passiert, wenn man fünf Mal am Tag sich von der sichtbaren Welt abwendet, lässt sich nicht so leicht zur Sprache bringen.


Terror, Blut, Gewalt - der tägliche Blick auf die islamische Welt kann erschrecken. „Wie konntest du nur Muslim werden?“ Diese empörte Frage hört man auch deswegen öfters. Wie also Verwandten, Bekannten oder aber dem staunenden Immigranten am Kebabstand antworten? Fakt ist, dass man sich der öffentlichen Kritik am Islam beinahe alltäglich stellen muss. Oft genug ist dabei die schärfste Kritik von ehemaligen Muslimen formuliert. Gerade als deutscher Muslim wird man verstehen, dass viele muslimische KritkerInnen des Islam von den Machenschaften trister Ideologien oder ungerechten Despotien ihrer ehemaligen Heimatländer geprägt sind. Das Signifikante an der Kritik am arabischen Modernismus und seiner teilweisen Pervertierung des Islam ist, dass diese Kritik leider zumeist aus dem Islam heraus- statt hineinführt. Eine positive Lehre begründen diese Abrechnungen meist nicht. So kann beispielsweise der brillianten Analyse von Autoren wie Abdulwahab Meddeb („Die Krankheit des Islam“) über den Modernismus durchaus gefolgt werden, nicht jedoch der Quintessenz, vor allem dann, wenn die Kritik an den Irrwegen der Muslime am Ende de facto das Verlassen des islamischen Weges selbst bedeutet.

Die verschiedenen Dimensionen des Islam erschließen sich nur, wenn alle menschlichen Fakultäten, also Herz, Intellekt und Verstand, eingesetzt werden. Die Annäherung gelingt also nur begrenzt über die Vermittlung durch Medien oder durch die Lektüre von Büchern. Der Islam erschließt sich nur in immer neuer Begegnung mit Muslimen. Islam ist ein auf Kommunikation und Sprache gegründetes Phänomen und nicht denkbar ohne soziale Einrichtungen, ohne das gesprochene Wort, ohne die stille Ecke im Garten der Moschee, wo man sich trifft und über Allah und Seine Welt spricht.


Muslime brauchen weder ein Feindbild, noch praktizieren sie ohne Vorsicht die dialektische Denkmethode. Auch Muslime unterliegen dem gefährlichen Grundgesetz jeder Dialektik: Definiert man sich nur noch gegen einen Feind, dann nimmt man auf Dauer dessen Eigenschaften selbst an. Deshalb gewinnt der positiv denkende Muslim seine existenzielle und spirituelle Identität nicht durch die Existenz eines Feindes, sondern allein durch seine Nähe zu Allah. Es gehört zu den Abgründen der radikalen Muslime, dass sie die Sprache verloren haben und damit nicht mehr über den islamischen menschenfreundlichen Grundimpuls verfügen, also ihre Nachbarn zum Gespräch über den Islam einzuladen. Mit dem Gewinn neuer Muslime haben die Extremisten nichts zu tun.

Dem Terrorismus zugeneigte Gruppen oder Einzelgänger lassen sich heute recht leicht typisieren: Sie sind privat, puritanisch, wahhabitisch infiltriert, rechtlos in ihrer Akzeptanz der Selbstmordattentate. Der gebildete Muslim, also der Muslim, der auch die Abgründe europäischer Geschichte studiert hat, wird die moderne Vorstellung politischer Ideologien, die der Etablierung der modernen Lager und jeder Vernichtungsstrategie vorgeschaltet ist, nämlich dass eine Welt ohne Feinde eine bessere sei, zutiefst ablehnen. Im Deutschland des Jahres 2007 sind es natürlich ökonomische Fragen, die die Menschen bewegen und nach Antworten verlangen. Wie könnte der Islam ansonsten Sinn haben, wenn er zu diesen neuen, prägenden Lebensumständen schweigt?


Der Islam birgt - im Gegensatz zur Lehre des ideologisierten Kapitalismus - einen vernünftigen Umgang mit materiellen Fragen. Muslime glauben weder an endloses Wachstum, noch an die schon quasi-religiös anmutende Verpflichtung der nachfolgenden Generationen, unsere Schuldenberge abzubauen. Aufgeklärte Muslime glauben auch nicht an das moderne „Wunder“ der endlosen Geldvermehrung. Natürlich ist im Islam das private Eigentum anerkannt, wird das Gewinnstreben als natürlich angesehen. Das Verbot der Zinsnahme und die Erlaubnis des freien Handels ist - aus ökonomischer Sicht - der kategorische Imperativ des Qur’an. Die politische Einsicht von Aristoteles, dass die Zinsnahme auf Dauer ein Gemeinwesen zerstört, wird ausdrücklich im Qur’an bestätigt.

Man liest in letzter Zeit, die neuen deutschen Muslime seien eine unberechenbare „Bedrohung“. Eine konkrete Bedrohung der Demokratie durch den „Islamismus“ ist aus Sicht der Muslime nichts anderes als eine bodenlose Übertreibung. Moderne Staaten sind auch längst keine hilflosen Objekte der politischen Destruktion mehr, sie entfalten heute mit Hilfe modernster Techniken mannigfache Mechanismen der absoluten Überwachung und komplexen Kontrolle. Es gibt heute keinen Zweifel an der dauerhaften Gesetzestreue der Massen der Muslime Europas. Einzelgänger können Millionen Muslime nicht definieren.

Zum Glück sind Nationalismus und Rassismus in Deutschland alte Antworten auf die neue globale Situation, die keiner mehr hören will. Peinlich wirkt auch ein neuer Provinzialismus, der dem muslimischen Anspruch nicht genügt. Es bildet sich ein neues, global denkendes Weltbürgertum, dem wir Muslime naturgemäß eher angehören. Der neue Limes zwischen Arm und Reich zeigt sich an den Außengrenzen unserer behüteten Wohlstandszonen. Diese messerscharfen High-Tech-Wälle deuten auch an, dass uns nicht etwa ein Kulturkampf, sondern wahrscheinlicher eine Revolte der verarmten Massen bevorsteht. Die Zakatpflicht, die im Islam den Charakter einer Säule hat, gehört zu den wichtigsten Prinzipien des Islam und symbolisiert die lebensnotwendige Solidarität zwischen Arm und Reich.


Wir erleben heute, zum Glück für die vielen neuen Muslime, nicht nur architektonisch ansprechende, sondern auch offene Moscheen. Es wird Deutsch gesprochen. Deutschen wird es also nicht wie Rainer Maria Rilke ergehen, der sich auf seiner Abenteuerreise zu den arabischen Muslimen noch bitter beklagte, dass ihn niemand zum Gebet einlud. Offensichtlich gelingt den Muslimen die Einladung immer besser.


Quelle: Islamische Zeitung

 

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