ISLAM - Herausforderung oder Sicherheitsgefahr?

Erst kürzlich konnte man es wieder in diversen Tageszeitungen lesen (1): "Islamisten" seien eine "ernstzunehmende Gefahr für die innere Sicherheit und demokratische Ordnung" hatte Peter Frisch, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, in einem Interview der "Deutschen Welle" erklärt. Schon Anfang letzten Jahres hatte eben jener Peter Frisch mit seiner Bemerkung, der Islam sei die schwerste Bedrohung der inneren Sicherheit in Deutschland, gewissermaßen den Startschuß für eine Presseberichterstattung gegeben, welche die Muslime in Deutschland vorwiegend unter dem Aspekt einer potentiellen Sicherheitsgefahr betrachtet. Diese Staatsschutz-Perspektive nimmt schließlich auch eine aktuell erschienene, vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegebene und finanzierte Untersuchung des Deutschen Orient-Instituts über "Islamische Organisationen in der Bundesrepublik Deutschland"(2) ein: "Wer ist wie extremistisch?" scheint die zentrale Fragestellung zu sein, die sich durch die gesamte Studie zieht.

Viele Muslime reagieren einigermaßen verstört auf die Situation, plötzlich zum "inneren Feind Nr. 1" der deutschen Gesellschaft erklärt zu werden. Ist dies nur Schaumschlägerei von Staatsdienern, die, nachdem die Stasi abgedankt und die RAF den bewaffneten Kampf eingestellt hat, wegen drohender Arbeitslosigkeit neue "innere Feinde" hochpushen müssen? Selbst wenn dies so wäre, müßte es ernst genommen werden, denn diese Leute sind dann auch dabei, etwa Internierungslisten für den Fall der Fälle aufzustellen, falls es nämlich zum Beispiel eine dritte Auflage des Golfkrieges oder ähnliches geben sollte, wo dann die Bundeswehr dieses Mal auf jeden Fall dabei wäre.

Der Islam tritt aus den

Hinterhöfen heraus

Auf jeden Fall ist es für die Muslime wichtig, ihre Situation in dieser Gesellschaft und die daraus erwachsenden Konfliktlagen realistisch einzuschätzen. Zwanzig Jahre hat der Islam vorwiegend auf den Hinterhöfen der Gesellschaft existiert, was insoweit auch eine beschauliche Existenz war, als die Muslime eher wenig beachtet wurden und so auch von Konflikten verschont blieben. Nun treten die Muslime aber immer stärker aus den Hinterhöfen heraus und in die Gesellschaft hinein. Damit werden die Muslime aber auch vermehrt mit gesellschaftlichen Konflikten konfrontiert und müssen lernen, sich in ihnen zu behaupten. Dies ist insoweit erst einmal normal.

Wenn man die Entwicklung der letzten Jahrzehnte genauer betrachtet, läßt sich feststellen, daß zwei Faktoren die Beziehungen zwischen den Muslimen in Deutschland und der deutschen Gesellschaft bestimmen: Das Verhältnis zwischen westlicher Welt und islamischer Welt allgemein und das Verhältnis der deutschen Gesellschaft zur Einwanderung. Der zweite Faktor ist dadurch bedingt, daß die islamische Realität in Deutschland im wesentlichen ein Produkt der Wanderungsrealität ist.

Zwar hatte es schon vor Ankunft der ersten "Gastarbeiter" islamischen Glaubens Muslime in Deutschland gegeben, jedoch in einer letztlich geringen Anzahl von Studenten und Geschäftsleuten, die sich zudem oft nur begrenzt (Studienzeit) hier aufhielten.

Der Islam als Massenphänomen und dauerhafte Erscheinung beginnt dagegen mit der "Gastarbeiter"-Einwanderung von Muslimen vor allem aus der Türkei und dem damaligen Jugoslawien in den sechziger Jahren. Dies wurde damals aber noch gar nicht wahrgenommen, da man die Einwanderer als "Gastarbeiter" ansah, also als Menschenmasse, die bei Bedarf wieder verschwinden würde, ohne kulturelle Spuren zu hinterlassen. Ihre Religion war daher weiter auch nicht von Interesse

Wie bekannt, lief die Entwicklung anders. Der Einwanderungsprozeß wurde manifest. Das Jahr 1973 brachte einen Einschnitt: Nach der "Gastarbeiter-Rebellion" der wilden Streiks in der Autoindustrie im Sommer folgte im Herbst der Anwerbestopp. Der Anwerbestopp brachte vor allem einen veränderten Blick auf die Eingewanderten: Der "Gastarbeiter" mutierte zum "ausländischen Mitbürger", der der "Integration" bedarf. Integration sollte in der Praxis aber meist als reine Assimilation funktionieren. Gefordert wurde nämlich die kulturelle Angleichung der Einwanderer an die deutsch-westlichen Verhältnisse. Nun begann man sich auch für die Kultur der Eingewanderten zu interessieren, wobei deren islamische Religion lediglich als Teil ihrer "rückständigen Herkunftskultur", als "Tradition" gesehen wurde, die für eine erfolgreiche Integration überwunden werden müsse.

Diesbezüglich war man jedoch total optimistisch: Schon allein der Kontakt mit der überlegenen westlichen Moderne werde den Islam zum Verschwinden bringen und wo er sich dennoch hartnäckiger erweise, müsse eben mit geeigneten sozialarbeiterischen Maßnahmen nachgeholfen werden. Wenn auch die in Anatolien sozialisierte "erste Generation" noch ein gewisses Bedürfnis nach Gebet und Moschee habe, werde die hier sozialisierte "zweite Generation" auf jeden Fall nur noch von der zwangsläufig siegenden westlichen Einheitskultur beseelt sein. Die Integrationspolitik, welche die Eingewanderten zwecks besserer Kompatibilität mit Deutschtum und westlicher Moderne vor allem auch entislamisieren sollte, schien also günstige Prognosen zu haben.

Einen weiteren Einschnitt brachte das Jahr 1979: Die Islamische Revolution in Iran veränderte den Blick auf den Islam und die Muslime überhaupt grundsätzlich. Bis dahin hatte der Islam in der durch den Ost-West-Konflikt Kapitalismus vs. Sozialismus bestimmten Welt als politischer Faktor praktisch keine Rolle gespielt. Nun siegte plötzlich eine Revolution auf islamischer Grundlage und trat als Gegenspieler des Westens auf. Dies erst einmal höchst verwirrende und in der westlichen Geschichtsplanung gar nicht vorgesehene Ereignis konnte zwar nicht verstanden werden, hatte aber damit seinen Sensationswert und in den Medien seitdem einen so inhaltsleeren wie emotionsstiftenden Begriff: Der "islamische Fundamentalismus" war geboren!

"Fundamentalismus" hieß seitdem der Blick auf den Islam und eben auch auf die Muslime in Deutschland. Da dies einen Sensationswert hatte, schwärmte man aus, um "Fundamentalisten" zu enttarnen. Und da man keine Ahnung aber viele Aversionen hatte, wurde jede Moschee, jeder Betende und jeder Fastende, jeder Bart und jedes Kopftuch zum Ausdruck des "Fundamentalismus". Überhaupt die Kopftücher! War schon immer die "Befreiung" der Frauen und Mädchen unter den Eingewanderten ein bevorzugtes Anliegen der deutschen "Ausländersozialarbeit", vergegenständ-lichte sich nun in diesem Stückchen Stoff der "Fundamentalismus" schlechthin.

Ihren Höhepunkt erlebte die Fundamentalis-mus-Hysterie während des (zweiten) Golfkrieges 1990/91, als der bislang vom Westen gesponserte und gar nicht islamistische irakische Diktator zum "heiligen Krieg" gegen die amerikanischen Weltpolizisten aufrief. Dieser Höhepunkt brachte aber auch eine Gegenbewegung hervor in Form einer Kritik am "Feindbild Islam". Neben einigen wenigen Ansätzen, die sich um eine grundsätzlich andere Herangehensweise bemühten, dominierte hierbei jedoch die Sichtweise, daß die pauschale Fundamentalismus-Hysterie die erforderliche Selektivität vermissen lasse: Indem man pauschal auf alles Islamische einschlage und in jedem Moscheebesucher den "Fundamentalisten" sehe, würde man die "wahren Fundamentalisten" nicht dingfest machen.

Noch eine weitere Entwicklung muß erwähnt werden, nämlich der veränderte Blick auf die Eingewanderten durch den Paradigmenwechsel von "Rasse" zu "Kultur". Die apartheidsmäßige Ausgrenzung der "Ausländer" genannten Eingewanderten wurde anfangs in klassisch rassistischer Weise mit der Störung der ethnischen Homogenität des Deutschtums begründet. Seit Ende der achtziger Jahre, besonders seit den Umbrüchen von 1989 ff., wurde die Argumentation zunehmend kulturalistisch geführt, was dann mit der These vom "Clash of Civilizations" globalisiert wurde: Der "kulturelle Gegensatz" zwischen dem Westen und dem Rest, insbesondere dem Islam, wurde zum bestimmenden Faktor. Die Einwanderungsfrage wird zur islamischen Frage, der "ausländische Mitbürger" zur "Invasion aus der Vormoderne", der mangels zivilgesellschaftlicher Standards eine Gefahr für Demokratie und Fortschritt darstellt.

Es wurden nun wissenschaftliche Untersuchungen wie die Heitmeyer-Studie oder jene des Orient-Instituts in Auftrag gegeben, die sich der Einwanderungsrealität als islamischer Realität zuwandten und die zuzüglicher ihrer journalistischen Abfallprodukte im "Spiegel", "Focus" etc. herausfanden, daß die Türken, insbesondere auch die Jugend, immer noch gläubig seien, um dann das festzustellen, was sowieso schon evident war: Das Scheitern der "Integration" genannten Assimilationspolitik. Dies wurde nun auf der Existenz eben dieser islamischen Realität begründet. Damit wird die Einwanderungsminderheit "gefährlich fremd" (Der Spiegel), zum Sicherheitsrisiko und potentiellen inneren Feind.

Doch welche Konsequenz wird daraus gezogen? Es sollen nun offenbar die Muslime assimiliert werden, wobei der assimilierte Islam auch schon einen Namen hat: "Euro-Islam"(3). Dazu wird erst einmal die Selektion in "gute" = as-similationsfähige und "böse" = auszugrenzende Muslime betrieben. Wer aber sind die Guten, wer die Bösen? Blickt man in die diversen Medienberichte aber auch in mit wissen-schaftlichem Anspruch auftretende Studien wie die des Orient-Instituts, so findet man nahezu das gesamte Spektrum islamischer Gemeinschaften in Deutschland als "fundamentalistisch", "extremis-tisch", als "Netz islamistischer Scharfmacher"(4) etikettiert: An erster Stelle wird dabei immer wieder die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs genannt - vermutlich deshalb, weil sie die zahlenmäßig größte ist, mit den Muslimen aus der Türkei die größte Gruppe repräsentiert und überhaupt der Islam im NATO-Land Türkei als besondere Herausforderung angesehen wird. Ferner immer wieder genannt die Islamischen Zentren in Aachen, München und Hamburg und neuerdings auch der Verband der Islamischen Kulturzentren und diverse Sufi-Gemeinschaften, die zudem noch als obskurantistisch und geheimbündlerisch diffamiert werden(5) (aber wie kann man auch von einem Spiegel-Redakteur ein Verständnis der islamischen Mystik verlangen?). Sogar die staatlich-türkische DITIB wird hier eingereiht - als "fundamentalistisch unterwandert"(6). Auffällig ist dabei im übrigen, daß es die meisten Autoren gar nicht mehr für nötig erachten, konkret darzulegen, warum sie eine bestimmte Gemeinschaft für fundamentalistisch, extremistisch etc. halten bzw. was sie unter "Fundamentalismus" überhaupt verstehen: Der Hinweis auf den Verfas-sungsschutzbericht genügt insbesondere auch bei Journalisten, die ansonsten für sich Anspruch nehmen, ein eher kritisches Verhältnis zu solchen Institutionen zu haben.

Der "Euro-Islam" nun erscheint als ein Produkt aus der intellektuellen Retorte, der integrierte Deutsch-Muslim als ein noch zu formendes Wesen. Bei genauerem Hinsehen ist dies jemand, der die absolute Hegemonie der westlichen liberalistisch-kapitalistischen Welt-anschauung bedingungslos akzeptiert, was sich ausdrückt in der Bereitschaft zur Individualisierung, der strikten Begrenzung der Religion auf die Privatsphäre und letztlich der

institutionellen Verkirchlichung der islamischen Gemeinschaften. Der "Euro-Islam" nun erscheint als ein Produkt aus der intellektuellen Retorte, der integrierten Verkirchlichung der islamischen Gemein-schaften. Zum Dreh- und Angelpunkt wird dabei die "Trennung von Politik und Religion" aufgebaut, denn überhaupt dialogwürdig seien nur diejenigen, "die eine Politisierung des Islam ablehnen"(7). Umgekehrt sind die bösen Fundamentalisten all jene, die eigene, islamische Standpunkte auch zu politischen Fragen vortragen.

Exkurs: Über Politik und Religion

Wenn also fast das gesamte islamische Spektrum in Deutschland ausgegrenzt und dem Verfassungs-schutz überstellt wird, weil hier auch ein politisches Verständnis der Religion besteht, muß an diesem Punkt genauer nachgefragt werden: Ist Religion politisch? Darf sie es sein? Ist Laizismus die Trennung von Politik und Religion? Und ist das Pflicht für alle?

Erst einmal ist die Antwort gar nicht so schwer: Religion beansprucht die Rechtleitung des Men-schen in dieser Welt und da der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist, greifen religiöse Antworten immer auch in die gesellschaftlichen Verhältnisse ein, sind also politisch. Eine andere Frage aber ist es, inwieweit eine Religion ein spezielles gesellschaftliches Ordnungssystem bestimmt bzw. inwieweit dies andere Religionen oder nichtreligiöse Weltanschauungen tun. Dies ist letztlich immer ein Ergebnis politischer Machtkämpfe und Ausdruck politischer Kräfteverhältnisse.

In Europa hat das Verhältnis zwischen Politik und (christlicher) Religion eine spezifische Entwicklung genommen. Das Christentum hat, anders als etwa Judentum oder Islam, den Glauben durch die Kirche institutionalisiert bis hin zu der Auffassung, Glauben außerhalb der Kirche sei überhaupt unmöglich. Im Mittelalter monopolisierte die Kirche nicht nur den Glauben, sondern das Wissen schlechthin, was u.a. auch dazu führte, daß innerhalb der Kirche die Unterscheidung zwischen Offenbartem und durch menschlicher Vernunft gewonnener Erkenntnis verloren ging. Wissenschaftliche Fragen wie die der Gestalt der Erde und der Anordnung der Himmelskörper wurden so zu Fragen des Glaubens. Als dann im ausgehenden Mittelalter infolge technischer Entwicklungen wie dem Buchdruck sich eine Wissenschaft außerhalb der Institution Kirche entwickelte , wurden so gewonnene neue, gegenüber den bestehenden Dogmen abweichende Erkenntnisse als Angriff auf den Glauben und insbesondere die Institution Kirche gesehen und bekämpft.

Die christliche Kirche hatte tatsächlich eine Konstellation geschaffen, in der sie die geistige Entwicklung blockierte, so daß alle diejenigen, die für die geistige Entwicklung eintraten in der Kirche und - da dies immer gleichgesetzt wurde - in der Religion überhaupt einen zu bekäm-pfenden Gegner ansehen mußten, der zurückgedrängt werden mußte, um eine Entwicklung zu ermöglichen. Dieser Prozeß wurde dann "Aufklärung" genannt und führte zu einem jahrhundertelangen Machtkampf, der in der französischen Revolution schließlich die politische Niederlage des Christentums manifestierte.

Das Christentum wurde als gesellschaftsbildende Ideologie zur Seite gedrängt. Seinen Platz nahmen andere Ideologien ein, insbesondere der Nationalismus als quasi-religiöser Kult des nun entstandenen Nationalstaates (Es ist interessant, daß solche nicht-religiösen Weltanschauungen immer religiöse Formen annehmen. Deutlich ist dies beim Nationalismus mit seinen nationalen Mythen, seinen Kultobjekten und -handlungen in Form von Fahnen und Wappen, Aufmärschen und Gedenktagen, Gräbern nationaler Persönlichkeiten als Wallfahrtsstätten etc. Nach islamischem Verständnis führt Nationalismus daher immer zum Götzendienst. Laizismus hieß nun die normative Festschreibung dieses Kräfteverhältnisses, welches im Bereich von Staat und Gesellschaft die christliche Religion an den Rand verwies, um das Feld für andere ideologische Akteure zu reservieren. Der heutige Monopolist auf diesem Feld ist der Liberalismus.

Da die Europäer dazu neigen, ihre spezifische Geschichte zu universalisieren, sie zur für alle verbindlichen Welt- und Menschheitsgeschichte zu machen, waren und sind sie der Auffassung, daß auch alle anderen Zivilisationen der Aufklärung und Säkularisierung und der von ihnen erlebten Form bedürfen, ungeachtet unterschiedlicher geistiger und gesellschaftlicher Voraussetzungen. So hat es etwa im Islam weder jemals eine Institutionalisierung des Glaubens in einer "Kirche" gegeben, noch wurde die menschliche Vernunft als Quelle eigenständiger Erkenntnis abgelehnt. Die ganze Konstellation des europäischen Spätmittelalters hat es in den islamischen Gesellschaften also so gar nicht gegeben.

Was es allerdings in den islamischen Gesellschaften vor Eintritt der europäischen kolonialen Unterwerfung gegeben hat, war eine Stagnation der gesellschaftspolitischen Ent-wicklung. Wie es ein iranischer Wissenschaftler jüngst formulierte: "Wahr ist, daß die politische Philosophie unter den Muslimen jahrhundertelang stagnierte und unser politisches Denken selbst eines schwachen Wachstums beraubt blieb. Die Rechtsgelehrten haben im Bereich der Ableitung von individuellen Geboten und Pflichten große Anstrengungen unternommen und einen reichhaltigen Wissensschatz hinterlassen, aber im Bereich des öffentlichen Rechts und insbesondere der grundlegenden Rechte, die eng verbunden sind mit der Politik, haben sie keinerlei lohnenden Schritt gemacht."(8) Ohne dieses komplexe Thema hier näher ausführen zu wollen, kann man doch feststellen, daß sich nach den vier rechtgeleiteten Kalifen mit der Umayyaden- und Abbasidendynastie ein System der "mulukiyya"(9) etablierte, wo sich der Herrscher nicht mehr über einen Konsens in der Umma bezüglich seiner religiösen Führerschaft legitimierte, sondern kraft seiner Herkunft und der von seiner Familie usurpierten Macht. Das religiöse Denken im politischen Bereich beschränkte sich auf eine "Hofulema", die den Islam jeweils in der Weise instrumentalisierte, wie es dem Machterhalt des Herrschers dienlich war. Alles andere wurde unterdrückt und die Gelehrten begaben sich auf das Feld der Individualpflichten oder in die Mystik. Zugespitzt könnte man sagen, die Entpolitisierung der Religion und die Entfernung der Politik vom Glauben, welche die reale Politik immer mehr zur reinen Despotie werden ließ, führte zum Niedergang der islamischen Zivilisation: Was erforderlich gewesen wäre, nämlich die Weiterentwicklung gesellschaftspolitischer Struk-turen auf der Grundlage islamischer Prinzipien, konnte nicht erfolgen, weil für das notwendige Denken kein Raum war.

Die koloniale Unterwerfung führte dann zu einem totalen Einschnitt. Europa erzählte den orientalischen Völkern nun, daß sie eigentlich nichts wußten und nichts konnten, daß Entwicklung nur europäische Entwicklung und Erkenntnis nur europäische Erkenntnis sein könne. In der Depression und scheinbaren Aussichtslosigkeit ihrer Lage glaubten das auch viele orientalische Intellektuelle und diejenigen, die eine Entwicklung ihrer Gesellschaften herbeiführen wollten, meinten, daß diese so schnell wie möglich den europäischen Verhältnissen angeglichen werden müßten. Dieses Projekt wurde auch "nationale Befreiung" genannt. Dazu mußte die westliche Weltanschauung, insbesondere der Nationalismus, zur gesell-schaftsbildenden Ideologie gemacht und der Islam soweit wie möglich eliminiert werden. Einige dieser Gruppen nannten die Institutionalisierung der ideologischen Monopolstellung in ihrer politischen Herrschaft auch "Laizismus".

Das Projekt der "nationalen Befreiung" scheiterte, der Traum vom gleichberechtigten Platz an der imperialistischen Tafel der Nationalstaaten ging nicht in Erfüllung. Dafür wurden vergeblicherweise viele Opfer gebracht, als größtes die Zerstörung der Gesellschaft, ihr Abschneiden von Geschichte und Kultur, ihre Darbietung für den kapitalistischen Raubzug, das Entstehen bisher nicht gekannter ethnischer Konflikte. Jede Erniedrigung wurde in Kauf genommen, um in den angebeteten imperialen Club aufgenommen zu werden. Jedoch heißt es nun aus der Clubzentrale "Danke schön, das war`s. Kein Bedarf mehr."

Während der europäische Kolonialismus noch herrschte und die neuen Eliten in der "nationalen Befreiung" den Aufbau europa-gestylter Nationalstaaten versuchten, schien der Islam tatsächlich geschlagen. Einige Muslime blickten in die Vergangenheit und versuchten die Restauration früher existenter institutioneller Formen (nämlich der mulukiyya). Ein heute noch bestehendes Produkt dieser Restauration ist das Königreich Saudi-Arabien (Zu dieser restaurativen Strömung ist auch die "Taliban" in Afghanistan zu zählen, die aber nur an die Macht kam, weil ihr u.a. von den USA dazu verholfen wurde. Sayyid Qutb hatte diesen Islam treffenderweise auch einmal als "amerikanischen Islam" bezeichnet). Jedoch die gesellschaftlichen Bedingungen hatten sich gewandelt, auch die islamische Welt war vom Feudalismus in die "Moderne" eingetreten und die moderne Massengesellschaft verlangte komplexere Antworten.

Um diese Antworten geben zu können, war erst einmal eine Wiederaneignung des Politischen erforderlich. Der Islam mußte (wieder) politisch werden, um die Moderne begreifen und gestalten zu können. Wiederaneignung heißt einmal, mit der geistigen Hegemonie des Westens zu brechen: Brechen mit der bis dahin absolut dominanten Vorstellung, daß Geschichte westliche Geschichte ist, daß Entwicklung westliche Entwicklung ist, daß Gesellschaft westliche Gesellschaft ist. Es bedeutete, überhaupt erst einmal wieder die Kompetenz und Kreativität zu entwickeln, eigenständig neue Lösungen zu finden, statt lediglich westliche Ideen und Entwicklungen möglichst im Zeitraffer nachzuvollziehen. Dies setzte aber das Bewußtsein voraus, daß man überhaupt einen Fundus an Geschichte und Wissen besaß und nicht, wie der Westen es darzustellen beliebte, zu den "unzivilisierten Barbaren" gehörte, denen nichts anderes übrig blieb, als sich geistig kolonialisieren zu lassen. Dies wiederum erforderte, den Islam vom Traditionalismus und dem Staub der Geschichte zu befreien und seine Substanz freizulegen - sowie insbesondere seine bedeutende gesellschaftspolitische Dimension.

Diese Strömung äußerte sich in verschiedenen Formen und manchmal auch in widersprüchlicher Weise. Gemeinsam blieb jedoch die vorbezeichnete Tendenz einer gesellschaftspolitischen Ent-wicklung des Islam in der Moderne durch Rückgriff auf die allumfassende Botschaft der qur'anischen Offenbarung und wurde von Personen und Gruppen wie Hassan al-Banna, Sayyid Qutb und der Muslimbruderschaft in Ägypten, Ayatollah Muhammad Baqir as-Sadr im Irak, Muhammad Iqbal in Pakistan sowie Imam Khomeini, Ali Schariati, Ayatollah Morteza Motahari und anderen geistigen Wegbereitern der Islamischen Revolution in Iran getragen. Gerade die Islamische Revolution in Iran - die in ihren politischen Auswirkungen auch mit der französischen Revolution verglichen wird (10) - brachte den Islam auf die weltpolitische Bühne unserer Zeit.

Die Bedeutung dieser Revolution liegt vor allem darin, daß sie nach dem westlichen Entwicklungsdogma gar nicht hätte stattfinden können und damit die globale ideologische Hegemonie des Westens einen Riß bekam. Sie war aber nur der Ausgangspunkt weiterer, lange nicht abgeschlossener Entwicklungen, wie der nach-revolutionäre Iran gerade in Anbetracht der dort zur Zeit stattfindenden Diskussionen - und die Entwicklungen in anderen Ländern wie der Türkei zeigen.

Spätestens seit der Revolution in Iran bezeichnet der Westen diese Strömung im Islam - und nicht etwa die restaurativen Traditionalisten! - undifferenziert als "Fundamentalisten" und betrachtet sie als Gegenspieler im "Kampf der Kulturen". Er ruft gegen sie zur Verteidigung des "Laizismus" auf und läßt diesen Kampf von den sonst schon abgeschriebenen Bankrotteuren der "nationalen Befreiung" ausführen.

Gerade die jüngsten Ereignisse in der Türkei liefern ein gutes Beispiel: Nachdem Necmettin Erbakan Ministerpräsident geworden war, wurde in den westlichen Medien die "fundamentalistische Gefahr" beschworen und Militärs und kemalistische Elite wurden ermuntert, zur "Verteidigung des Laizismus" die Regierung zu destabilisieren. Daß man dabei großes Verständnis für die zu diesem Zweck gewählten Mittel (kalter Militärputsch, Kopftuch-, Schul- und Parteiverbote) hat, offenbart, daß es bei der Verteidigung des Laizismus eben nicht, wie vorgegaukelt, um Freiheit und Demokratie geht, sondern um den Erhalt des Monopols auf Politik und damit des Monopols auf die Macht, das gesellschaftliche Schicksal dieser Völker zu bestimmen, einer politischen Klasse und des dahinter stehenden westlichen Imperialismus. Deshalb sollen Religion und Politik getrennt werden.

Dialog oder Konfrontation?

Erst einmal ist die Konfrontation zwischen dem Westen und dem Islam eine normale Folge der Begegnung einer dynamischen Weltanschauung mit einer inzwischen immer mehr krisenbehafteten Zivilisation. Man muß dabei bedenken, daß westliches Denken und westliche Politik (wobei der Ostblock-Sozialismus mit dem Marxismus eben auch eine Spielart des abendländischen Denkens war) seit dem 19. Jahrhundert bis in die jüngste Vergangenheit derart absolut die Welt dominierte, daß jede andere Entwicklung schlichtweg undenkbar war. Daß der Islam beginnt, in der vom Westen geschaffenen Moderne einen geistig eigenständigen Weg zu gehen, was sich mit der Islamischen Revolution in Iran sich erstmals auch politisch manifestierte, ist für viele westliche Politiker, Journalisten und Intellektuelle eine irritierende Erscheinung, da sie mit den bestehenden Denkmustern nicht verortbar ist. Und sie bedeutet einen Verlust dieser absoluten Dominanz und damit natürlich einen realen Machtverlust. Das dies erst einmal zu Abwehrreaktionen auch aggressiver Art führt, ist quasi "normal".

Dies geschieht in einer Situation, wo die westliche Gesellschaft immer mehr unter das Diktat der Ökonomie gerät, in dem die Kriterien der ökonomischen Nützlichkeit und Verwertbarkeit eine nahezu totalitäre Herrschaft ausüben. Um den "freien Markt", den "Standort" etc. ist eine Art Götzenkult entstanden. Diese totalitäre Herrschaft des Ökonomischen hat in nie dagewesener Weise jegliche Moral und Ethik in der Gesellschaft liquidiert. Wo der Gewinn zum einzigen Wert erhoben wird, haben daneben keine anderen Werte mehr Bestand. Vor diesem Hintergrund ist natürlich eine Weltanschauung, die statt des Geldes wieder Gott in den Mittelpunkt aller Dinge stellt und vorrangig die Remoralisierung der Gesellschaft erstrebt, Ausdruck eines ganz anderen Wertesystems und einer diametral entgegengesetzten Alternative. Auch dies muß bedacht werden, wenn man sich fragt, warum es zur Konfrontation zwischen dem Islam und dem Westen kommt.

Konfrontation als solches ist also erst einmal eine Tatsache und soweit auch nichts Schlimmes, wenn daraus eine geistige Auseinandersetzung erwächst. Das Beunruhigende für die Muslime ist aber, daß der Islam im Westen zunehmend zum Fall für die staatlichen Sicherheitsorgane erklärt wird. Damit wird nicht nur die geistige Auseinandersetzung verweigert, sondern auch die gesellschaftliche Ausgrenzung der islamischen Minderheit in Europa betrieben - mit nicht abzusehenden Konsequenzen.

Wenn sich diese Tendenz fortsetzt, wird die Basis zur Entwicklung eines immer wieder geforderten Dialoges natürlich immer schmaler.

Voraussetzung für einen Dialog erscheint mir die Akzeptanz der geistigen Pluralisierung der Welt. Dies erfordert von westlicher Seite die Anerkennung der Muslime als gleichberechtigte Subjekte der Auseinandersetzung und die islamische Realität so anzunehmen, wie sie sich darstellt und von den Muslimen geformt wurde, statt mit eigenen Konstrukten wie einem westgestylten "Euro-Islam" zu liebäugeln, der letztlich nur dazu dienen soll, die eigene weltanschauliche Hegemonie doch noch zu retten. Die Muslime wiederum müssen erst einmal hinreichend konfliktfähig werden und dies setzt Wissen voraus - Wissen über sich selbst und Wissen über ihre Umwelt.

Norbert Müller

Anmerkungen:

1) z.B. Hamburger Abendblatt, Süddeutsche Zeitung, die tageszeitung, alle v. 31.3.98

2) Niels Feindt-Riggers, Islamische Organisationen in der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg 1997

3)     Der Erfinder dieses Begriffes dürfte der Politologe Bassam Tibi sein, dessen Schriften sich hauptsächlich mit der Bedrohung Europas durch den Islam und haßtriefender Demagogie gegen die multikulturelle Gesellschaft beschäftigen.

4)     Focus 16/97, S. 26

5)     Der Spiegel v. 9.3.98

6)     Focus, a.a.O.

7) Reinhard Hesse, Im Banne des Islam, in: Die Woche vom 25.4.97

8)     M. Kadivar, Herrschaftstheorien im schiiti- schen Recht, in: Al Fadschr Nr. 83/84, S. 71

9) vgl. hierzu Kalim Siddiqui, Stages of Islamic Revolution, London 1996

10) So Udo Steinbach in seinem Nachwort zu Kai Hafez (Hg.), Der Islam und der Westen, Frankfurt a.M.1997, S. 214

Quelle: Islamisches Zentrum Hamburg

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