VORWORT Hadsch (die Wallfahrt nach Mekka) ist eine der religiösen Grundpflichten
eines jeden Moslem. Nach koranischem Gebot (Koran 3/97) ist jeder volljährige Moslem
verpflichtet, wenigstens einmal in seinem Leben die Wallfahrt nach Mekka zu verrichten,
sofern er dazu imstande ist und die Möglichkeit hierzu hat. Mit der Wallfahrt nach Mekka
wird der Moslem auf die Ursprünge des Islam verwiesen und dorthin geführt, wo die
koranische Offenbarung herabgesandt worden ist. Im Jahre 632 n. Chr. pilgerte der Prophet
Mohammad (s.a.s.) nach Mekka. Die Riten, die er bei dieser Wallfahrt vollzogen hat, gelten
als verbindlich für die Pilger aller Zeiten.
Ziel der Wallfahrt ist in erster Linie die Kaaba, die von Abraham und seinem Sohn Ismael
als Haus Gottes und der Menschen erbaut wurde (Koran 2/124 - 129). Die Wallfahrt ist nur
gültig, wenn die Pilger sich den Bedingungen eines besonderen Weihezustandes (Ihram)
unterwerfen und die obligatorischen Wallfahrtsrituale, die im folgenden tabellarisch
aufgeführt werden, an den festgelegten Tagen des Monats Zu I-Hidscha vollziehen.
1. Ihram (Weihezustand)
Vor dem Betreten mekkanischen Bodens muß der Pilger an bestimmten, Miqat genannten
Treffpunkten seine Absicht bestätigen, die vorgeschriebene Wallfahrt zu vollziehen. Diese
Absicht wird ebenfalls vor jeder Handlung während des Hadsch bekundet. Dann versetzt er
sich auch äußerlich in den Weihezustand, indem er Waschungen und weitere Reinigungsriten
vollzieht, seine Kleider ablegt, zwei ungenähte weiße Tücher anlegt (eins um die
Hüften und eins um die Schultern geschlungen) und zwei Gebetseinheiten verrichtet. Bis
zum Ende der eigentlichen Wallfahrt hat der Pilger alle Handlungen zu vermeiden, die
seinen Weihezustand aufheben.
2. Tawaf (Rundlauf um die Kaaba)
In der Heiligen Moschee in Mekka beginnt der Pilger mit dem siebenmaligen Umlauf um
die Kaaba. Die Kaaba befindet sich
" Bei dieser Beschreibung handelt es sich um Hadsch-Tamattu während des Rundlaufs
zu seiner Linken. Der Umlauf beginnt an dem in einer Ecke eingemauerten Schwarzen Stein
und endet auch dort.
3. Tawafgebet
Nach dem Umlauf um die Kaaba verrichtet der Pilger zwei Gebetseinheiten an der Stätte
Abrahams.
4. Sa'y (Streben)
Nach dem Tawafgebet begibt sich der Pilger nach Masaa. Masaa ist die Entfernung zwischen
den beiden Hügeln Safa und Marwah. Der Pilger läuft eiligen Schrittes zwischen diesen
Hügeln dreimal hin und zurück und noch einmal hin (Koran 2/158).
5. Taqsir (Kürzung)
Nach der Verrichtung des Sa'y werden entweder die Fingernägel geschnitten oder das Haar
ein wenig gekürzt. Es wird empfohlen, beides zu tun. Danach ist der Weihezustand
teilweise aufgehoben.
6. Arafat
Am 8. Zu I-Hidscha versetzen sich die Pilger wieder in den Weihezustand und
ziehen in Gruppen zu dem etwa fünfundzwanzig Kilometer von Mekka
entfernten Berge Arafat. Am 9. Zu I-Hidscha müssen sie sich
vom Mittag bis zum Sonnenuntergang in Arafat aufhalten.
7. Maschar
Nach Sonnenuntergang verlassen die Pilger Arafat wieder und ziehen nach
Maschar (Muzdalifa), wo sie bis zum Sonnenaufgang des 10. Zu I-Hidscha
verweilen. Den kurzen Aufenhalt in Maschar nutzen die Pilger u. a. dazu, 49 bzw. 70
Steinchen zu sammeln.
8. Mina
Nach dem kurzen Aufenthalt in Maschar setzen die Pilger ihre Wanderung fort, so daß sie
nach Sonnenaufgang die Grenze zu Mina überschreiten. Dort steinigen sie symbolisch den
Satan, indem sie 7 Steinchen auf eine Dschamarah al-Aqba
genannte Säule werfen. Darauf werden Opfertiere geschlachtet.
Das in der islamischen Welt gefeierte Opferfest ( Id al-Adha) erinnert an das Opfer
Abrahams (Koran 37/107; 2/1241 und wird am 10. des
Monats Zu I-Hidscha begangen.
Im Anschluß daran wird das Haar geschoren bzw. gestutzt und der Weihezustand ist
teilweise aufgehoben.
9. Tawaf
Nun begeben sich die Pilger erneut nach Mekka, vollziehen einen weiteren siebenmaligen
Rundlauf um die Kaaba und verrichten zwei Einheiten des Tawafgebets.
10. Sa'y und Abschlußtawaf
Der Lauf zwischen Safa und Marwah wird wiederholt. Danach wird ein Abschlußtawaf um die
Kaaba verrichtet, an den zwei Gebetseinheiten anschließen. Die
Pilger kehren noch am 10. Zu I-Hidscha nach Mina zurück, wo sie
die Nacht des 10. und 11. Zu I-Hidscha verbringen müssen. Am 11. und 12. Tag haben sie
jeweils 7 Steinchen auf die oben genannte und zwei weitere Säulen zu werfen. Damit ist
die vorgeschriebene Pflichtwallfahrt beendet.
Wer freiwillig auch am 13. Tag noch in Mina verweilt, muß den Steinigungsritus noch
einmal wiederholen.
Die Pilger bleiben üblicherweise noch ein paar Tage in Mekka und nutzen diese
Gelegenheit zu weiterer Andacht und zu Diskussionen
über die Angelegenheiten der Moslems der Welt.
Zahlreiche islamische Gelehrte haben sich mit Hadsch und der Bedeutung der einzelnen
Wallfahrtshandlungen beschäftigt und versucht, sie aus
religiöser, gesellschaftlicher, politischer und mystischer Sicht zu
interpretieren. Einer dieser Versuche ist die beachtliche Abhandlung Ali Schariatis über
die Hadsch-Rituale.
Schariati hält die konkreten Handlungen
des Hadsch für eine symbolische Sprache, deren Ausdrucksform nicht Worte, sondern
Bewegungen sind. Die zielgerichteten Bewegungen der
Pilger sollen die Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Menschheit, das Sein und
Werden des Menschen in der Gemeinschaft, seine ständige Entwicklung in der Zeit unter
einer bestimmten Ordnung und Harmonie, den Primat der Gemeinschaft und die
Bedeutung der bewußten gemeinsamen Bewegung zur absoluten Unendlichkeit und zur
unendlichen Vollkommenheit - zu Gott -versinnbildlichen. Seine Sprache entspricht dieser
Absicht. Mit kurzen Sätzen beschreibt er in eindringlichem
Verbalstil den Entwicklungsgang des Menschen, den er hier fortwährend als
Mekkapilger anredet, zum höchsten und unerreichbaren
Ziel.
Die Pilger sind die Protagonisten des Schöpfungsdramas
und stellen jeweils Adam, Abraham und Hajar in Antagonismus zum Satan dar. Orte des
Geschehens: Heilige Stätte, Heilige Moschee, Masaa, Arafat, Maschar, Mina; Symbole:
Kaaba, Safa, Marwah, Tag und Nacht, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, Götzen und
Opfertier; Kostüme: Ihram.
Die Hadsch-Rituale hält Schariati
für symbolische Akte, die interpretationsfähig und daher zeitlos sind.
Jeder Pilger habe das Recht, sich darüber seine eigene Meinung zu bilden und die
gemeinschaftliche Wanderung zu Gott individuell zu
verstehen.
Was Schariati selber verstanden hat, hat er nach einer Wallfahrt niedergeschrieben.
Trotz seiner spekulativen Interpretationsweise zieht
Schariati konkrete Schlußfolgerungen für das weitere Vorgehen der Pilger, die die
Wallfahrt beendet haben. Hier ist er wieder der moslemische Politiker, der das Wohl der
Gemeinschaft nicht aus den Augen verloren hat. Das ist typisch für ihn und für jeden
islamisch denkenden Gelehrten und ein weiterer Hinweis darauf, daß in dieser
Denkweise das Geistige vom Weltlichen nicht zu trennen ist.
Schwer zu verstehen für den, der diese Trennung im Zeichen der Aufklärung längst
vollzogen hat und geistig-moralische Werte nicht selten nach ihrer
Zweckdienlichkeit beurteilt. Recht mühsam dürfte sein, diesem Gedankengang
zu folgen, wenn man dazu noch jede geistige Manifestation als Resultat einer ökonomischen
Basis betrachtet. Doch wenn die Zeichen nicht trügen, betrachten immer mehr
Menschen aus der sogenannten säkularisierten Welt die
Verselbständigung der ökonomischen, politischen und sozialen
Funktionen mit Argwohn und glauben nicht mehr an die entseelte Brauchbarkeit der Technik.
Umweltkatastrophen, die drohende atomare Vernichtung und die Hilflosigkeit der total
verwalteten Menschen haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Suche nach einer
geistig-moralischen Weltordnung hat neue Impulse erhalten. Die Hinwendung zu Gott, die
Emigration zu Ihm, wird nicht mehr als fortschrittshemmend empfunden.
Für die Moslems zeichnet Schariati einen Weg, wie sie aus sich
heraus zu Gott finden können. Dieser Weg ist nicht neu, er ist von Gott und Seinem
Propheten vorgezeichnet. Interessant ist jedoch die Art, wie Schariati seine
Glaubensbrüder aufruft, dem Wege Gottes zu folgen.
Die wortgewaltige Sprache Schariatis, die Ausdruck einer tiefempfundenen Erfahrung ist,
stellt einige Anforderungen an den Übersetzer, denen gerecht zu werden nicht immer leicht
ist. Wir haben versucht, demjenigen, der "Hadsch" nicht im Original lesen kann,
zumindest die Gedanken und Empfindungen des Autors zu vermitteln, auch wenn es nicht immer
möglich war, die Schönheit
seiner Sprache hinüberzuretten.
Der Herausgeber
September 1983
Hadsch
Hadsch ist Vorsatz, Absicht,
Bewegung und Bewegungsrichtung zugleich. Alles beginnt damit, daß Du Dich von Dir, von
Deinem Alltag und von Deinen Bindungen befreist. Du bist doch in Deiner Stadt seßhaft,
also unbeweglich. Hadsch ist die Absage an den Stillstand. Ein Leben, das zum
Selbstzweck wird, ist dem Tode gleich, einer Art atmendem Tod, lebendigem Tod, dem toten
Leben, dem Vegetieren im Sumpf des Daseins.
Hadsch ist der Ruf nach Aufbruch.
Das Leben ist eine Bewegung im Kreis, in einem Teufelskreis, ein
sinnloses und sich wiederholendes Kommen und Gehen. Die sichtbare Veränderung: Altwerden,
und das tatsächliche Ergebnis: Verfaulen. Eine eintönige und törichte Auf- und
Abwärtsbewegung; Qualen, die an Sisyphus erinnern. Der Tag leitet die Nacht ein und die
Nacht den Tag. Sie nagen wie schwarze und weiße Ratten an den Fäden unseres Lebens, bis
wir sterben.
Das Leben ist ein Schauspiel, bei dem sich die Tage und Nächte ohne Sinn und Ziel
ablösen. Ein Spiel ohne Ende! Bist Du in Not, mußt Du Dich abmühen, leiden, hoffen und
warten. Erreichst Du Dein Ziel, so erscheint Dir alles nichtig und sinnlos. Welch eine
Lebensphilosophie: Absurdität, Nihilismus!
Hadsch ist Deine Rebellion gegen diesen törichten Zwang, gegen das verhängnisvolle
Schicksal des Sisyphus, Deine Befreiung von Schwankungen und Zweifeln und einem
Lebenskreislauf, in dem produziert wird, um zu konsumieren, und konsumiert wird, um zu
produzieren.
Hadsch weist Dir den Weg aus dem Labyrinth Deines Daseins.
Durch Deine revolutionäre lntention öffnet sich der geschlossene Kreis und wird zu einer
geraden Linie, die Dich zur Ewigkeit und zu Ihm führt.
Wandere aus Deinem Haus aus
und begib Dich zum Hause Gottes, ja, in das Haus der Menschen. Und wer auch immer Du heute
bist, Du warst ein Mensch, ein Kind Adams, aber die Geschichte, das Leben und die
unmenschliche Gesellschaftsordnung haben Dich in ein niederes Geschöpf verwandelt und
Dich Dir selbst und Deiner göttlichen Natur entfremdet. Du warst Stellvertreter Gottes
auf Erden, Sein Gesprächspartner und Sein engster Vertrauter. Du warst Herr über
die Natur und Angehöriger Gottes. Der Geist Gottes war Dir eingegeben, Du warst
Sein Schüler. Er lehrte Dich alle Namen und lehrte Dich, indem Er Dir das Schreibrohr in
die Handgab (Koran 96/4). Er schuf Dich nach Seinem Ebenbild .
Als Er Dich schuf, rühmte Er sich Seines Werkes und wies Seine ihm nah- und fernstehenden
Engel an, sich vor Dir niederzuwerfen und Dir zu gehorchen. In Deine Hand gab Er Himmel
und Erde.
Er kam zu Dir, legte die Last der Verantwortung vertrauensvoll auf Deine Schultern,
schloß mit Dir einen Bund, brachte Dich auf die Erde, zog in Dein Wesen ein, wohnte Dir
inne und wartete darauf, was Du tun wirst3. Und Du machtest Dich auf, beschrittest
den Weg der Geschichte, die Verantwortung auf Deinen Schultern lastend, im Bunde mit
Gott stehend, die von Ihm gelernten Namen in Deinem Herzen und in Dir, in Deinem Dasein
der Geist Gottes.
Und die Zeit ist Dein ganzes Kapital . . . Wie hast Du Dein Kapital genutzt? Davon hast Du
nur Deinen Lebensunterhalt bestritten.
Und Deine Leistung im Leben? Schädigung, nicht nur Gewinnausfall, sondern Schädigung des
Eigenkapitals: Ein sicherer Untergang und Bei der Zeit! Der Mensch kommt (mit seinem
gottlosen Hande/nl bestimmtzu Schaden (Koran 103/1 und 2).
Und das nennst Du Leben? Was hast Du bislang getan? Nur gelebt!
Was hast Du erreicht? Viele wertvolle Jahre habe ich verloren! Was ist aus Dir
geworden? Du, das Ebenbild und der Treuhänder Gottes, dem die Engel
huldigten und der Stellvertreter Gottes auf Erden ist.
Geld, Sinnlichkeit,
Begierde und Lüge bestimmen Dein Leben! Du bist zu einer Bestie geworden! Du bist leer
und hohl! Nein, Du bist voller Schlamm und sonst nichts! Dein Leib war am Anfang ein
Schlamm, ein stinkender Schlamm (Koran 15/26), dem Gott Seinen Geist eingab. Wo ist nun
dieser erhabene Geist, die Seele Gottes? Du, die Krähe, die verschlammte Leiche, der
verfaulte Leib, erhebe Dich aus dem Morast Deines Daseins, aus dem Sumpf Deines Lebens und
brich zu neuen Ufern auf! Kehre dieser Stadt, diesem Garten, dieser Oase, ja, diesem
Schandfleck den Rücken, ziehe durch die sonnige Wüste der Halbinsel, durch die glühende
Sandwüste unter einem Himmel, von dem Offenbarungen herabkommen. Wende Dein Gesicht Gott
zu, spiele Dein Klagelied wie eine Schilfrohrflöte, ausgedörrt, verblaßt und hohl;
beklage die Trennung, die Verbannung und die Fremde. Den Fremden und Feinden hast Du mit
Deinen Liedern Freude bereitet. Nun komme zu Dir und stimme Dein Klagelied an!
Die Zeit der Wallfahrt
Nun ist es soweit, der Augenblick
der Begegnung ist gekommen!
Es ist die Zeit des Hadsch, der Monat der Wallfahrt, der Monat der Geborgenheit, des
Respekts und der Verbote. Die Schwerter stecken in der Scheide, das Kriegsgeschrei von
Roß und Reiter ist verstummt, Krieg, Haß und Furcht sind vorbei, Friede, Andacht und
Sicherheit sind auf der Erde eingekehrt. Die Geschöpfe suchen die Begegnung mit ihrem
Schöpfer. Dies muß in einer bestimmten Zeit geschehen. Auch zu Gott soll der Mensch in
Gemeinschaft mit anderen gehen. Hörst Du nicht die Stimme Abrahams auf Erden?
Sie ruft: Und rufe unter den Menschen zur Wallfahrt auf, damit sie (entweder zu Fuß zu
Dir kommen oder auf allerlei hageren (Kamelen reitendJ, die aus jedem tief
eingeschnittenen Pal3weg daherkommen (Koran 22/27).
Und Du Schlamm suche nach dem Geist Gottes und frage Ihn danach. Ziehe aus aus Deinem Haus
und begib Dich zu Ihm, Er erwartet Dich in Seinem Haus und ruft Dich zu sich. Folge Seinem
Ruf!
Du bist ein Nichts und kannst Du
werden auf dem Wege zu Ihm (Koran 35/12). Die Zeit ist gekommen, befreie Dich von Deinem
unwürdigen, schändlichen und kleinlichen Leben - der Welt -, aus der erdrückenden und
verschlossenen Festung Deiner Individualität - Deines eigenen Ich - und begib Dich zu Ihm
als Zeichen der ewigen Auswanderung des Menschen, Deines unaufhörlichen Werdens auf dem
Wege zu Gott. Begib Dich auf die Wallfahrt!
Begleichung der Schulden, Bereinigung von Mißstimmungen, Überwindung des Ärgers, Bitte
um Vergebung, Regelung der Lebensund Vermögensverhältnisse vor der Wallfahrt kündigen
den Tod an, als ob Du eine Reise ohne Wiederkehr antrittst. Es erinnert an den
letzten Abschied, es ist ein Hinweis auf das menschliche Schicksal, ein Ausblick auf
die Trennung von allem und die Hinwendung zur Ewigkeit, also der letzte Wille, das heißt,
die Vorbereitung auf den Tod; auf den Tod, der Dich zwangsläufig holen wird. Nun begib
Dich auf die Wallfahrt! Brich auf zur Ewigkeit, zur Begegnung mit Gott. Am Jüngsten Tag,
wenn Du nichts mehr tun kannst, vor dem Gericht, wo von Deinem Gehör, Gesicht und Herz
für all das Rechenschaft verlangt wird (Koran 17/36), ist es schon zu spät. Du und Dein
Körper werden zur Rechenschaft gezogen. Du bist zu einem schutzlosen Opfer Deiner
grausamen Handlungen geworden, bereite Dich auf die Reise in die Welt der Rechenschaft
vor, solange Du noch in der Welt des Wirkens weilst.
Übe das Sterben, stirb, bevor Du stirbst, wähle jetzt symbolisch den Tod! Nimm Dir vor
zu sterben, nimm Abschied von dieser Welt! Begib Dich auf die Wallfahrt!
Hadsch ist das Symbol der Rückkehr zu Ihm, der die absolute Ewigkeit und Unendlichkeit
ist, der keine Grenzen hat und dem nichts gleicht.
Die Rückkehr zu Ihm ist der
Aufbruch des Menschen zur absoluten Vollkommenheit, Güte, Schönheit, Macht,
Allwissenheit und Wahrheit. Es ist ein Wandern zum Absoluten, eine Bewegung zur
absoluten Vollkommenheit, eine ewige Bewegung. Du bist in einem
ständigen Werden begriffen, in einer nie endenden Bewegung. Gott ist kein erreichbares
Ziel, Er ist ein Ziel in der Unendlichkeit, Er ist nicht das Endziel auf Deiner Reise,
Deine Reise ist Dein ewiges Wandern auf einem Weg, der kein Ende findet. Es ist ein Weg in
die Unendlichkeit. Es ist ein absolutes Wandern. Bei Deinem Werdegang in der Welt der
Seienden, bei Deinem ständigen Wandern und Werden ist Er nicht der Endpunkt,
sondern der Richtungweisende.
Keine Mystik (aufgehen in Gott, einswerden mit Gott), sondern Islam (auf Gott
zugehen).
Wir gehören Gott, und zu lhm kehren wirzurück (Koran 2/156).
Alle Dinge kehren zu Gottzurück (Koran 42/53).
Nicht das Aufgehen in Ihm, sondern die Bewegung zu Ihm wird gefordert, nicht in lhm,
sondern zu lhm.
Es ist Pilgerzeit, die Zeit der
Begegnung ist nähergerückt, gehe zum Sammelpunkt, gehe zum Miqat, Dich hat Er zu sich
gerufen, der Augenblick der Begegnung ist gekommen, hier ist Miqat. Du
Schlamm, triff Dich mit Gott!
Du, der Angehörige Gottes, Sein Vertrauter, Gesellschafter Seiner großen Einsamkeit, Du,
dem alle Engel huldigten, die Geschichte hat Dich entartet und das Leben hat Dich zu einer
Bestie gemacht.
Du hattest mit Gott den Bund geschlossen, Ihn allein anzubeten und gegen alle anderen
außer Ihm zu rebellieren. Nun betest Du zu Taqut, dienst einem Götzen, der Deine eigene
Schöpfung ist.
Du, der Finstere und der Unwissende, Du betest nicht den Schöpfer der Welt und der
Menschen an, sondern die irdischen Götter.
Du, der Verlierer im Spiel des Lebens, das Opfer der Tyrannei, der Unwissenheit, des
sklavenhaften Untergangs, der Erniedrigung und der Not, Du bist von Deinen Ängsten und
Deiner Habgier zerstört worden. Das Leben, die Gesellschaft und die Geschichte
haben Dich zum Wolf, zum Fuchs, zur Ratte oder zum Schaf werden lassen.
Es ist soweit, gehe auf die
Wallfahrt, gehe zum Miqat, dort begegnest Du, wie verabredet, dem größten Freund des
Menschen, der Dich als Mensch erschuf! Verlasse die Stätte der Macht, die Schätze des
Reichtums, die Tempel des Leides und der Erniedrigung, befreie Dich von dieser Schafherde,
deren Hirte der Wolf ist, faß den Vorsatz, ihnen zu entfliehen und im Hause Gottes, im
Hause der Menschen Zuflucht zu nehmen. Gehe auf die Pilgerfahrt!
Weihezustand in Miqat
Das Schauspiel beginnt. Du bist hinter den Kulissen und möchtest
zu Ihm. Du bist zum Sammelpunkt gekommen. Nun mußt Du Dich umziehen, denn Deine
Kleidung verhüllt Dich, Dein menschliches Selbst, ja, Deine Menschlichkeit. Das
Menschliche in Dir bleibt verborgen und Du trittst im Gewande eines Wolfes, eines Fuchses,
einer Ratte oder eines Schafes auf. Diese Kleidung ist eine Täuschung, sie ist eine Kufr,
die Verschleierung der Wahrheit.
"Die Gottesfürchtigen befinden sich in Gärten und an Bächen, auf einem
guten Sitzplatz in Gegenwart eines mächtigen Königs" (Koran 54/54, 55).
Kleider sind Statussymbole, sie
verschleiern, täuschen vor und deuten den Rang und die Stellung an. Das Kleid, dessen
Farbe, Muster und Qualität heben das lch hervor, und dieses lch heißt nicht Du, nicht
Ihr, nicht Wir, sondern nur Ich. Diese Ich-Bezogenheit ist eine Diskriminierung, eine
Abgrenzung, ja eine Spaltung.
Mit dem Ich wird nicht der Mensch hervorgehoben, sondern die Rasse, die Sippe, die Klasse,
die Grruppe, die Familie, der Rang, die Stellung und das Individuum. Im Reiche der
Menschen gibt es viele Grenzen. Die Henker der Geschichte, die
Abkömmlinge Kains, machten sich über die Kinder Adams her und spalteten die in
Einheit und Eintracht lebenden Menschen in
Herren und Knechte, Herrscher und Beherrschte, Satte und Hungrige, Reiche und
Arme, Meister und Diener, Tyrannen und Unterdrückte,
Kolonialherren und Kolonisierte, Ausbeuter und Ausgebeutete, Betrüger und
Betrogene, Starke und Schwache, Verführer und Verführte, Besitzer und Besitzlose,
Adelige und Bürgerliche, Geistliche und Weltliche, Auserwählte und Gemeine, Freie und
Unfreie, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Glückliche und Unglückliche, Weiße und Schwarze,
Westliche und Östliche, Zivilisierte und Unzivilisierte, Araber und Nicht-Araber.
Die Menschen wurden in Rassen, die Rassen in Nationen und sie wiederum in
Klassen eingeteilt. Die Klassen spalteten sich in Schichten, Gruppen,
Familien und diese wieder in Personen, wobei Titel, Rang, Stellung, Ansehen und
dergleichen immer mehr hervorgehoben wurden bis zu jenem Individuum, dem Ich, das sich in
dieser Kleidung verhüllt hat.
Lege sie in Miqat ab, ziehe das Leichentuch an, verwische die Farben, ziehe Dich weiß an,
sei wie die anderen, werde Wir. Streife das Ich von Dir ab wie eine Schlange ihre Haut,
sei mit den Menschen, werde ein Teilchen unter vielen, wie ein Tropfen in einem Meer. Du
bist nicht allein am Sammelpunkt erschienen, Du bist ein Strohhalm in Miqat. Werde zu
einer Existenz, die ihre Sterblichkeit spürt, oder zu einer Sterblichkeit, die sich ihrer
Existenz bewul3t ists. Stirb, bevor Du stirbst! Entledige Dich der Kleider des Lebens,
lege das Gewand des Todes an, denn hier befindest Du Dich in Miqat. Wer Du auch bist, was
auch immer für Verzierungen, Auszeichnungen und Farbenpracht das Leben Dir beschert und
Dich
zum Wolf,
zum Fuchs,
zur Ratte oder
zum Schaf
gemacht hat, entledige Dich ihrer in Miqat. Werde ein Mensch, so wie Du am Anfang warst:
ganz Adam! Werde so, wie Du am Ende sein wirst: ganz tot! Lege ein zweiteiliges Gewand an,
ein Teil um Deine Schultern und ein weiteres um Deine Hüften, weiß, ungemustert,
ungenäht, schlicht, ohne Hinweis auf Deine Person und ohne daß Du Dich von anderen
unterscheidest.
Ziehe das an, was alle in Miqat tragen, ein Gewand, das den Gewändern Deiner
Weggefährten zum Verwechseln ähnlich ist. Zu Beginn der Reise zum Hause Gottes lege das
Gewand an, das Du am Anfang Deiner Reise zu Gott tragen mußt.
Hier ist Miqat, der Sammelpunkt der Reisekarawanen aus allen Himmelsrichtungen auf dem
Wege zum Hause Gottes, eine erstaunliche Bezeichnung für einen Ort. Der Raum wird mit
einem Zeitbegriff ausgedrückt. Was bedeutet das? Heißt das, daß auch im Raum Bewegung
herrscht? Heißt das, daß alles Zeit ist? Heißt es also auch, daß Raum Zeit ist?
Bedeutet das nein zum Stillstand?
Ja, denn der Mensch ist
doch kein Sein, sondern ein Werden auf dem Wege zu Gott, und zu Gott führt das Werden
(Koran 24/42). Erstaunlich, alles ist Bewegung, Vollkommenheit, Leben und Tod, alles sind
Gegensätze, Veränderungen und Richtungen. Alle sind dem Untergang geweiht, nur derjenige
nicht, der sich Ihm zuwendet (Koran 28/88).
Und Gott, das absolute Sein, die absolute Vollkommenheit, die absolute Ewigkeit und die
absolute Absolutheit, Er ist jeden Tag mit etwas beschäftigt (Koran 55/29).
Auch Hadsch ist Bewegung, Aufbruch zu einem Ziel, ein Zeichen der Rückkehr des Menschen
zu Gott.
Begrabe Deine Ichs in Zul-Halifah, beerdige dort Dein Selbst, sei Zeuge Deines eigenen
Sterbens, pilgere zu Deinem eigenen Grab, bestimme Dein endgültiges Schicksal selbst und
stirb in Miqat.
Erlebe Deine Auferstehung in der Wüste zwischen Miqat (Sammelpunkt) und Miad (Treffpunkt)
Die Szene erinnert an den Tag des Gerichts. Überall, soweit das Auge reicht, bewegt sich
eine reißende weiße Flut von Menschen im Todesgewand. Keiner erkennt den anderen wieder,
keiner findet also sein Selbst wieder, denn das Ich ist in Miqat geblieben; sie alle sind
die Inkarnation der auferstandenen Seelen, die keine Klassen, Rassen und
Standesunterschiede kennen. Es ist ein Zusammenscharen, eine Verschmelzung der Menschen zu
einer Einheit, eine menschliche Verkörperung der göttlichen Einzigkeit, eine
Auferstehung in Angst, Begeisterung, Aufregung, Entzückung und Verwunderung; jeder bewegt
sich wie ein winziges Teilchen in einem Magnetfeld; Gott in Qibla (Gebetsrichtung) ist die
Anziehungskraft. Nur der Mensch ist von Bedeutung, sonst nichts. Nur Gott ist
richtungweisend und kein anderer. Alle Nationen, Völker und Gruppen sind in der Wüste zu
einem einzigen Stamm verschmolzen, mit einer einzigen Qibla im Dasein, im Leben.
Lege Deine Kleidung ab! Entledige Dich aller Dich von anderen unterscheidenden
Kennzeichen! Tauche in der Menschenmenge unter und vergiß in dem Gewühl der
Auferstandenen alles, was Dir das Leben beschert hat, was Dich an Dein Selbst und Deine
Lebensordnung erinnert! Entsage allem und lege Dir lhram8 an. In Miqat gehen Ichs in Wir
auf. Jeder streift seine Unarten ab und wird zum Menschen. Auch Du begräbst Deine
Individualität und wirst ein Teil der Glaubensgemeinschaft, denn wenn Du Dich von Deinem
Ich befreist, Dein Selbst verleugnest, in Wir aufgehst, wirst Du selber zu einer
Gemeinschaft, wie Abraham eine gewesen war.
Nun bist Du aufgebrochen, um ein Abraham zu werden. Einer wird alle und alle werden einer.
Alle werden eins. Eine polytheistische Gesellschaft gelangt zum Monotheismus. Sie wird zu
einer Ummah: Umm heißt Vorsatz, Aufbruch zu einem Ziel, zu einer Qibla; Ummah ist eine
Gesellschaft, die in Bewegung ist, eine Gesellschaft, die im Werden begriffen ist - nicht
zum Zwecke des Wohlstandes, sondern der Vollkommenheit, nicht für Ruhe, sondern für
Bewegung, nicht zum Verwalten, sondern zum Führen, nicht zum Regieren, sondern für
Imamat.
Nun seid Ihr, Du und Deinesgleichen, also andere lchs, nein, vielmehr die Nichts, aus
allen Himmelsrichtungen, Eurem Selbst entsagend, zu Gott hingezogen, den schlammigen Sumpf
zurücklassend, dem Geiste Gottes zugewandt, die Verbannungsorte der Erde verlassend, den
Blick auf das Jenseits gerichtet, dem Relativen und den Interessenzwängen entflohen, auf
der Suche nach dem Absoluten und der Wahrheit, der Unwissenheit und Tyrannei den Rücken
kehrend, der Bewußtheit und der Gerechtigkeit zugewandt und schließlich die
Vielgötterei überwunden habend, auf dem Wege zu dem einzigen Gott in Miqat angekommen,
habt das lhram angelegt und seid einander zum Verwechseln ähnlich geworden. Es ist solch
ein Menschenauflauf, bei dem der Fremde für den Freund und der Unbekannte für den
Verwandten gehalten wird. Jeder kann die Schuhe des anderen tragen, jedes lhram kann Deins
sein.
All diese Menschen, die seit Jahren das Menschsein vergessen hatten und von
Macht besessen waren, die ihr Hab und Gut, ihren Ruhm und ihre Stellung, also ihr
Besitztum mit ihrer Existenz gleichsetzten und sich mit ihrem Rang und Titel
identifizierten, haben nun zu sich zurückgefunden. Sie sind wieder zu Menschen geworden,
zu einem einzigen Menschen mit einer einzigen Eigenschaft: Hadschi (Wanderer mit einem
festen Vorsatz - der Pilger).
Niya (Absichtserklärung)
Du stehst an der Eingangsschwelle und willst beginnen. Nun mußt
Du vor allen Dingen Deine Absicht erklären. Welche Sinnbereiche erfaßt das Wort Niya?
Vorhaben, Ortswechsel, Zustandsänderung, weite Wege zurücklegen, mästen (Kamele),
befriedigen (Bedürfnisse), Ausreifung der Dattelkerne, sich niederlassen,
Fahrtrichtung, Vorsatz, Absicht, Wille, Willensrichtung,
Bedürfnis und Geheiß.
Navi (Nomen Agentis): der sich auf Umwälzung Vorbereitende;
der für den Glauben eines Volkes und das Schicksal einer Gemeinschaft Verantwortliche. Du
bist in Miqat an der Schwelle einer großen Veränderung, einer revolutionären
Umwälzung, eines Überganges von Deinem Haus in das Haus der Menschen, vom Leben zur
Liebe, von Dir selbst zu Gott, von der Versklavung zur Freiheit, von Zwietracht,
Scheinheiligkeit, Standesdünkel und Rassendiskriminierung zu Aufrichtigkeit und
Freundschaft, von der Verborgenheit zur Offenheit, vom täglichen Gewand zum ewigen, vom
Gewand der Selbstsucht, der Fahrlässigkeit und Zügellosigkeit zum Umhang der Hingabe,
des Verantwortungsbewußtseins und des Ihram.
Fasse den Vorsatz, reife wie die Datteln innerlich aus, säe die Saat der Erkenntnis in
Dein Bewußtsein, erfülle die hohle Schale, Dein Inneres, sei nicht träge, bilde einen
Kern, umschließe mit Deinem Dasein den Kern Deines Glaubens, höre auf, eine Luftblase zu
sein, existiere! Entzünde eine Flamme in Deinem finsteren Herzen, leuchte, sei erfüllt
vom Lichte des höchsten Wesens, fließe über, sei außer Dir und finde zu Deinem wahren
Selbst zurück! Du, der ewig Ignorante, erkenne Gott und seine Geschöpfe, gelange zur
Selbsterkenntnis. Du warst immer und überall das Werkzeug und wurdest benutzt. Du hattest
keine Wahl, die Arbeit wurde an Dich herangetragen, Du mußtest sie aus Gewohnheit,
Tradition oder Zwang verrichten. Nun verkünde Deine Absicht, wähle bewußt und
frei
den neuen Weg,
die neue Richtung,
die neue Arbeit,
das neue Dasein und
das neue Selbst!
Beten in Miqat
Nun befindest Du Dich in Miqat. Du verkündest Deine Absicht und
beginnst die Wallfahrt. Du fühlst, was Du auf Dich genommen hast, weißt, was Du tust und
warum. Du legst Deine Kleidung ab, schüttelst alles ab, legst das Ihram an, verrichtest
das Ihram-Gebet. Es ist Deine Hingabe an Gott in Deinem neuen Gewand, das heißt: nicht
der Götzendiener, der Sklave von Nimrod, steht vor Dir, mein Gott, sondern ich in Gestalt
Abrahams. Nicht in dem Gewand des gewalttätigen Wolfes, des listigen Fuches, der
raffgierigen Ratte oder des unterwürfigen Schafes stehe ich vor Dir, sondern im Gewand
des Menschen, so, wie ich dereinst mich aus der Erde erheben werde.
Das heißt, ich bin mir meines Schicksals bewußt; ich bin nichts und doch alles, weil ich
Dir folge. Ich habe mich durch Rebellion von all dem befreit, was mit Dir nichts zu tun
hat; ja, so weit bin ich mir meines Schicksals bewußt. Nun wähle ich dieses Schicksal
und bereite mich darauf vor.
Das Gebet in Miqat, in dem weißen, dem Totenhemd ähnlichen Ihram an der Schwelle der
Begegnung nimmt seltsame Züge an.
Alles bekommt einen anderen Sinn. Die Worte hören sich an, als ob sie zum ersten Male
ausgesprochen werden. Sie sind keine Pflichtübung, wir reden mit Ihm. Wir spüren Seine
Gegenwart:
Du, der Barmherzige,
Deine Gnade strahlt wie die Sonne über alle Grenzen unserer Freundschaft und Feindschaft,
unseres Glaubens und unserer Lästerung hinweg, denn Du bist darüber erhaben, ob wir
Deiner Gnade würdig sind oder nicht. Lob sei Dir, Dir allein werde ich dienen und außer
Dir keinen zum Herrn nehmen, denn Du bist der Herr aller Menschen. Du wirst am Tage des
Gerichts regieren. Ich zerstöre meine Götzen und bete nur zu Dir. Dich allein bitte ich
um Hilfe. Du bist meine einzige Stütze und der einzige Anbetungswürdige. Durch
unsere Unwissenheit sind wir alle irregeführt worden. Wir sind das Opfer der
Unterdrückung und unserer Schwächen. Wir sind zum Spielball eigener Schwächen und
fremder Mächte geworden. Führe uns den geraden Weg, den Weg der
Rechtschaffenheit, Erkenntnis, Wahrheit, Vollkommenheit, Liebe,
Schönheit, Güte und den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, nicht aber den Weg
derer, die Deinen Zorn auf sich geladen haben und irregehen.
Jede Verneigung in Miqat, im weißen Gewand des Jenseits, ist eine Absage an frühere
Verbeugungen, die durch Angst, Habgier oder Verherrlichung motiviert waren. Jeder Kniefall
vor dem Allmächtigen ist die Verweigerung der Unterwürfigkeit anderen Mächten
gegenüber.
Das Gebet in Miqat ist das Gelübde vor dem einzigen Gott, daß es keine Verneigung vor
irgendeinem außer Ihm geben wird.
Friede sei mit Dir, Mohammad, Seinem Diener und Gesandten! Die Gnade und der Segen Gottes
mögen Dir zuteil werden, weil Du den Menschen in diesem Leben und auf dieser Erde so viel
Segen gebracht hast.
Friede sei mit
uns und mit den lauteren und rechtschaffenen Dienern Gottes!
Friede sei mit Euch! Hier sind diese Worte mit Leben erfüllt. Die Pronomen beziehen sich
auf das Nahe, auf die Anwesenden. Keiner ist in Miqat abwesend. Gott, Abraham, Mohammad,
die Menschen, der Geist, die Auferstehung, das Paradies, die Erlösung, die Freiheit
und die Liebe sind allgegenwärtig.
Nun stehst Du da im Gewand Adams, in dem Gewand der Menschen, der Einheit, in der
prachtlosen Reinheit des Todes, der Auferstehung, und erlebst eine neue
Geburt.
lhram!
Aus dem Paradies
vertrieben, durch Satan irregeführt, auf die Erde verbannt, zu Einsamkeit und den Qualen
des irdischen Lebens verurteilt, bist Du nun Adam, beschämt und Vergebung suchend, zu
Gott zurückgekehrt, um zu Dir selbst zu finden. Du bist nicht mehr fahrlässig und
zügellos. Du hast Dir bewußt und freiwillig Einschränkungen auferlegt; ein
Determinismus nach freier Wahl. Nun bist Du gebunden und verantwortlich, Du bist im
Zustand der Weihe, an einem geheiligten und unverletzlichen Ort, Du befindest Dich auf dem
Wege zu einem Heiligtum in einer geheiligten Zeit, in einem geheiligten Gewand, ja, an
einem Ort der Verbote.
Ihram heißt verbieten. Was wird Dir verboten?
Muharramat (verbotene Handlungen)
Alles, was an Dich erinnert, alles, was Dich von anderen trennt,
alles, was auf Dein Leben und Deine Arbeit hinweist, alles, was auf Deine soziale Stellung
und Deine Welt hindeutet, alle Dir liebgewordenen weltlichen Gewohnheiten, alles
Unmenschliche, alles Tagtägliche, alles, was an Dein Leben vor Miqat erinnert, alles, was
Dich mit Deiner vergrabenen Vergangenheit verbindet, ist verboten:
1. Schaue nicht in den Spiegel, damit Du Dein Bildnis nicht siehst und
vergißt, daß es Dich gibt!
2. Benutze oder rieche kein Parfum, damit Du nicht an das Leben erinnert
wirst, Sehnsüchte in
Dir nicht wachgerufen und Vorstellungen von weltlichen
Vergnügungen nicht assoziiert
werden, denn hier ist alles von himmlischem Geruch
erfüllt, atme es ein und laß Dich vom Duft
der Liebe betäuben!
3. Gib keine Anordnungen, erwecke die Brüderlichkeit zum Leben
und übe die Gleichheit!
4. Quäle kein Tier, auch dann nicht, wenn es ein Insekt ist, vertreibe es
nicht, lebe in der Welt
der Kaiser einige Tage wie Jesus!
5. Reiße die Pflanzen der geheiligten Erde nicht aus, brich sie nicht ab,
lerne mit der Natur in
Frieden zu leben, töte den Aggressions- und
Zerstörungstrieb in Dir ab!
6. Gehe nicht auf die Jagd, bekämpfe die Grausamkeit in Dir!
7. Gib Dich der körperlichen Liebe nicht hin,
blicke nicht begehrlich, damit Du von der
wahren Liebe beseelt wirst!
8. Heirate nicht und nimm an der Eheschließung eines anderen nicht
teil!
9. Schminke Dich nicht, damit Du Dich so siehst, wie Du bist!
10. Lüge nicht, sei nicht streitsüchtig und arrogant, fluche nicht!
11. Lege kein genähtes oder halbgenähtes Gewand an, kein einziger Faden darf an Deinem
lhram
sein, um jeden Unterschied und jede Selbstdarstellung zu
vermeiden!
12. Trage keine Waffen, aber wenn es unvermeidlich ist, trage sie nicht sichtbar!
13. Schütze Deinen Kopf nicht vor der Sonne, denn Sonnenschirme und alle
Gegenstände, die
Schatten spenden, sind verboten !
14. Bedecke die Oberfläche Deiner Füße weder mit Schuhen noch mit
Socken!
15. Trage keinen Schmuck!
16. Bedecke nicht Deinen Kopf!
17. Schneide nicht Dein Haar!
18. Gehe nicht in den Schatten!
19. Schneide nicht Deine Nägel!
20. Benutze keine Cremes!
21. Vergieße weder eigenes noch fremdes Blut!
22. Ziehe keine Zähne!
23. Schwöre nicht!
24. Bedecke nicht Dein Gesicht (Frauen)!
Die Wallfahrt hat begonnen; die
Fahrt zur Kaaba! Eile zu Gott im Zustand der Weihe und sprich: Labbaika! (Hier bin ich).
Gott hat Dich gerufen, seinem Ruf folgend, bist Du gekommen und nun antwortest Du:
Labbaika!
Herrgott, hier bin ich, nur Dir gebührt das Lob, von Dir kommt die Gnade und Dir gehört
das Reich, Du hast keinen Teilhaber. Hier bin ich!
Dieses Eingeständnis ist gleichzeitig eine Absage an Verdummung, Ausbeutung und
Willkürherrschaft - diese Trinität in der Geschichte - an die Füchse, Ratten und
Wölfe, die die Menschen wie die Schafe regieren, die Schafe Gottes.
Die Stimme Gottes ist in der Wüste allgegenwärtig. Sie ist zwischen Himmel und Erde
überall zu vernehmen; jeder hört sie und fühlt sich angesprochen, und jeder ruft aus
der Tiefe seines Herzens:
Labbaika, allahumma labbaika! (Herrgott, hier bin ich).
Wie ein Metallstäubchen in einem Magnetfeld fühlst Du Dich von einer unwiderstehlichen
Kraft angezogen, Du fühlst Deine Füße nicht mehr. Es ist, als ob Du getragen wirst und
gemeinsam mit anderen wie Vögel in großen Scharen zum Himmel emporfliegst, auf dem Wege
zu Miradsch .
Du näherst Dich der Kaaba! Je näher Du kommst, desto aufgeregter wirst Du. Wie ein
verwundetes wildes Tier pocht Dein Herz in Deiner Brust. Du hast das Gefühl, daß Du
über Dich hinauswächst. Dein Herz fließt vor Begeisterung über; Du fühlst Dich, als
ob Deine Haut zu eng für Dich wäre. Deine Augen füllen sich mit Tränen. Langsam
versinkst Du in einer göttlichen Atmosphäre.
Die Gegenwart Gottes
fühlst Du unter Deiner Haut, in Deinem Herzen, in Deinen Sinnen, in Deiner Seele, im
Schimmern eines jeden Sandkörnchens, auf den Felsen, im Tal, im verschwommenen Horizont
und in der Tiefe der Wüste. Nur Ihn siehst Du und nur Ihn findest Du, weil Er allein
existiert, alles andere ist unwirklich.
Es sind Wellen und Schäume. Die Wüste ist vom Regen der Liebe fruchtbar geworden, hier
wirst Du nicht auf Rosen gebettet, sondern von der Liebe ergriffen. Du bewegst Dich fort
und spürst, wie Du entschwindest. Du entfernst Dich von Dir und kommst Ihm immer näher.
Nun ist Er alles, und Du bist nichts anderes als eine blasse Erinnerung dessen, was Du in
Miqat abgeworfen hast, als Du befreit von der Last des Ich zum Treffpunkt aufgebrochen
bist.
Du spürst, daß Du nicht mehr bist. Nur
die Begeisterung für die Bewegung in eine einzige Richtung ist von Dir übriggeblieben.
Du bewegst Dich vorwärts und darfst keinen Schritt zurückkehren.
Ihm bist Du zugewandt; Ihn nimmst Du in Dir auf. Du wirst aufgesaugt wie die Wolken von
der heißen Sonne der Wüste. Die Schöpfung erscheint wie ein pochendes Herz, Gott ist
allgegenwärtig im Raum und in Dir.
Die Wüste ist vom Regen der Liebe fruchtbargeworden, hier wirst Du nicht auf Rosen
gebettet, sondern von der Liebe ergriffen. In der näheren Umgebung von Mekka angekommen,
findest Du einige Hinweise, welche die Grenze des geweihten Ortes markieren. Mekka ist ein
geweihter Ort (Haram). Krieg und Aggression sind dort verboten. Wer vor dem Feind
flüchtet und in Haram Zuflucht nimmt, bleibt von der Verfolgung verschont. Jagen, das
Schlachten
von Tieren, ja sogar das Ausreißen von Pflanzen ist an diesem Ort verboten. Nach der
Eroberung von Mekka und der Abschaffung des Götzendienstes in der Kaaba hat der Prophet
dieses Gebiet eigenhändig neu markiert und somit eine alte Tradition über die
Unzulässigkeit des Krieges und des Tötens in diesem Gebiet
gewahrt.
Du überschreitest die Grenze und betrittst das geweihte Gebiet.
Die begeisterten Labbaika-Rufe, die ihren Höhepunkt erreicht haben,
verstummen plötzlich.
Es herrscht eine erwartungsvolle Stille. Du bist angekommen! Hier ist Er, der Dich gerufen
hat. Du bist in Seinem Haus angekommen. Sei still, still in Seiner Gegenwart, an dem
geweihten Ort, in Gottes Haram.
Erfüllt von der
Sehnsucht nach der Kaaba gehst Du weiter. Nun bist Du in der Stadt. Die von Bergen
umgebene Stadt gleicht einer großen Schüssel. Jedes Tal, jede Straße und jede Gasse
führt zu diesem großartigen Haus. Dort liegt die
Kaaba inmitten der Masdschid al-Haram. Der Weg führt Dich in zahlreichen Windungen
ins Tal hinunter und bringt Dich der Kaaba näher. Du reihst Dich unauffällig in die
Menge ein und läßt Dich von der Menschenflut zur Masdschid 'al-Haram treiben. Je
weiter Du hinuntersteigst, desto näher kommst Du dem Erhabenen. Die Erhabenheit,
insbesondere die göttliche, vermuten wir gewöhnlich auf den Höhen. Hier dagegen mußt
Du absteigen, um Ihm näherzukommen. Nur durch Demut und Bescheidenheit kannst Du Würde
und Erhabenheit erreichen. Suche Gott nicht im Himmel und im Jenseits, sondern auf der
Erde und in den Niederungen, in der tiefen Stofflichkeit des Steines. Du mußt den rechten
Weg zu Ihm finden, ja, Du mußt lernen, richtig zu sehen. Die Fahrt auf diesem Wege
symbolisiert vielleicht das Schicksal des Menschen, seinen Abstieg tief in die Erde
(Begräbnis) und seinen Aufstieg zu Gott
(Auferstehung).
Nun ist die Kaaba nicht
mehr weit entfernt. Es herrscht eine feierliche Stille, Du bist in Gedanken versunken und
von Liebe erfüllt. Mit jedem Schritt steigt Deine Erregung. Du spürst den ständig
wachsenden Druck Seiner Gegenwart. Das Atmen fällt Dir schwer. Gespannt und verwirrt
blickst Du mit weit geöffneten Augen nach vorn. Vor Dir liegt Qibla. Oh, wie schwer ist
doch diese Begegnung! Diese überwältigende Größe ist nicht leicht zu
ertragen.
Wird das Dein empfindsames Herz aushalten?
Nach jeder Kurve, die Du hinter Dir läßt, während Du ins Tal hinuntersteigst, schlägt
Dein Herz höher: Bald ist es soweit! Die Kaaba, der Wegweiser unseres
Daseins, unseres Glaubens, unserer Liebe und unserer täglichen Gebete. Sie ist
richtungweisend für uns auf der Erde und darunter. Die Lebenden wenden sich ihr zu, wenn
sie beten, und die Toten werden in dieser Richtung begraben. Noch bist Du einige Schritte
von ihr entfernt; bald wirst Du vor ihr stehen.
Die Kaaba
Du stehst an der
Schwelle der Masdschid al-Haram. Nun liegt die Kaaba vor Dir, ein hohler Würfel mitten in
einem geräumigen Hofe, sonst nichts. Ein Schauder des Erstaunens überfällt Dich
plötzlich.
Du wunderst Dich über das, was Du siehst. Dort ist niemand, dort gibt es nichts zu sehen
außer einem leeren Raum.
Widerstrebende Gefühle bewegen Dich. Ist das
die Richtung unseres Glaubens, unserer Liebe, unserer Gebete? Ist das unser
Wegweiser im Leben und im Tod? Schwarze und unbearbeitete Steine aufeinandergelegt und die
Fugen ungeschickt verstrichen, das ist alles!
Plötzlich erwachen quälende Zweifel in Dir. Was ist hier, wo sind wir? Einen Palast in
seiner architektonischen Schönheit hätte ich mir noch vorstellen können. Ich hätte es
verstanden, wenn es sich um einen Tempel mit einer schöpferisch gestalteten hohen Kuppel
voller Schönheit gehandelt hätte, wo transzendentale Stille und Erhabenheit herrscht,
ich hätte es auch noch verstanden, wenn dies das Grab einer großen Persönlichkeit,
eines genialen Helden, eines Propheten oder eines Imam wäre.
Aber das hier . . . ? Ein leerer Raum mitten auf dem Platz. Keine architektonische
Besonderheit, keine Kunst, keine Schönheit, keine Inschrift und
keine Stuckarbeit. Nicht einmal das Grabmal eines Propheten, eines Imam oder eines
Heiligen, das man hätte besuchen können, um sich später an ein konkretes Bezugsobjekt
seiner Gefühle und Bindungen zu erinnern. Hier gibt es nichts und niemanden.
Plötzlich verstehst Du alles. Du bist froh, daß es hier niemanden und nichts gibt.
Nichts kann Deine Gefühle beeinträchtigen. Die Kaaba erscheint Dir wie ein hohes Dach,
wie eine Startbahn zum Fliegen. Sie beflügelt Deine Gefühle, welche bald die Kaaba
verlassen, um Dich dem Absoluten und dem Ewigen näherzubringen.
Was Du in Deiner zerrissenen und unvollkommenen Welt weder finden noch fühlen kannst und
worüber Du nur philosophierst, kannst Du nun hier sehen: das Absolute, das Ewige, das
Richtungslose und Ihn.
Wie gut, die Kaaba leer
vorzufinden. Allmählich wird Dir klar, daß Du nicht gekommen bist, jemanden hier
aufzusuchen. Hier ist keine Endstation. Der Schwarze Stein an der Kaaba ist ein Wegweiser.
Er zeigt Dir nur die Richtung. Du bist auf dem Wege zur Absolutheit und zur Ewigkeit; eine
ewige Fahrt zu Ihm hin, nicht nur bis zur Kaaba. Die Kaaba ist nicht das Ende, sondern der
Anfang. Nur Dein Unvermögen, Dein Tod und Dein Stillstand signalisieren die Endlichkeit.
Hier ist jedoch alles richtungsorientierte Bewegung.
Hier ist der Treffpunkt, der Treffpunkt zur Begegnung mit Gott, Abraham, Mohammad und den
Menschen. Und Du? Solange Du an Dich selbst denkst, bist Du hier abwesend. Werde ein
Mensch, Du trägst das Gewand der Menschen. Die Menschen sind die Ehre Gottes, ja, sie
sind Seine Familie. Gott ist auf die Ehre Seiner Familie bedacht, mehr als jeder andere.
Und hier ist Sein Heiligtum, Sein Haus, das Haus der Menschen.
Das erste (Gottes-J Haus, das den Menschen aufgestellt worden ist, ist dasjenige in Bakka
(Mekka), aufgestellt zum Segen und zur Rechtleitung für die Menschen in aller Welt.
Und Dir, solange Du an Dir selbst festhältst, ist der Zutritt zu diesem Heiligtum
verwehrt.
Die Kaaba wird Baiti atiq (befreites Haus) genannt. Ein Haus, das aus der Gewalt der
Unterdrücker und Herrscher befreit worden ist. Es ist niemandes Privatbesitz; es ist das
Haus Gottes, bewohnt von Menschen.
Entfernst Du Dich 24
Kilometer von Deinem Wohnsitz, so mußt Du als Reisender das gekürzte Gebet verrichten,
nicht jedoch in Mekka. Dort muß Dein Gebet vollständig sein, auch wenn Du vom anderen
Ende der Welt gekommen sein solltest. Dort bist Du zu Hause, Du bist in Dein Heim
zurückgekehrt. Fremd warst Du in Deinem eigenen Land, entwurzelt und in die Fremde
verbannt.
Nun bist Du an Deinen wahren Geburtsort heimgekehrt.
Die Menschen, die Familie Gottes, sind hier zu Hause. Und Du, egozentrisch wie Du bist,
bleibst ein Fremder ohne Bindungen, ein Außenseiter ohne Hoffnung, ein Obdachloser ohne
Zuflucht. Entledige Dich Deiner Ichsucht, lege sie an der Tür ab. Betrete das Haus, sei
ein Mitglied der Familie. Hättest Du das Ich schon in Miqat begraben, wärest
Du ohne weiteres in diesem Haus als Freund, als Verwandter, als Mitglied der Familie
Gottes aufgenommen worden, hättest Du die Anwesenheit Abrahams an der Türschwelle
gespürt, dieses ältesten Rebellen der Geschichte, des Lästerers gegen die irdischen
Götter, des großen Verliebten und des ergebensten Dieners des einzigen Gottes.
Eigenhändig baute er dieses Haus. In seiner Bauart ist es ein Zeichen Gottes auf Erden.
Die schwarzen Steine sind aus dem in der Nähe von Mekka gelegenen Berg Ajun
herausgeschlagen und ohne jede künstlerische Gestaltung aufeinandergelegt worden. Seine
Bezeichnung ist ebenso einfach, es heißt: Kaaba, Würfel, sonst nichts. Warum ist es so
einfach und weist keine Farbe und kein schmückendes Beiwerk auf? Weil auch Er in unsere
Vorstellung von Farbe und Gestaltung nicht hineinpaßt. Was wir auch gestalten und uns
vorstellen, ist nicht Gott. Gott ist absolut und richtungslos. Nur Du mußt Ihm gegenüber
eine Richtung einschlagen, Du richtest Deinen Blick auf die Kaaba, die selbst keine
Richtung hat. Das Fehlen einer Richtung ist durch die menschliche Vorstellung nicht
erfaßbar. Alles, was als Zeichen Seines richtungslosen Wesens in unserer Vorstellung
Gestalt annimmt, weist schon eine Richtung auf und kann Ihn nicht symbolisieren. Wie kann
eine Vorstellung von dem Fehlen jeglicher Richtung auf der Erde vermittelt werden? Indem
alle gegensätzlichen Richtungen auf einmal auftreten, damit jede
Richtung durch ihr Gegenteil aufgehoben wird und der Eindruck der Richtungslosigkeit
entsteht. Mit sechs Seiten hat der Würfel die angemessene Struktur, diese Vorstellung zu
vermitteln; sie bezieht alle Richtungen ein, und gleichzeitig zeigt ihre Summe keine
Richtung auf. Die Kaaba ist das konkrete Symbol dieser Vorstellung.
Wohin lhr Euch wenden
möget, da habt Ihr Gottes Antlitz vor Euch (Koran 2/115).
An der Kaaba betest Du nur zu Ihm, welche Gebetsrichtung Du auch nimmst. Jede andere
Struktur außer der Kaaba zeigt nach Norden, Süden, Osten, Westen, nach oben oder unten.
Die Kaaba hingegen zeigt in alle Richtungen und doch in gar keine. Als ein wahres Symbol
Gottes hat sie viele Richtungen und doch keine bestimmte.
Da stellst Du erstaunt fest, daß eine halbkreisförmige kleine Mauer auf der westlichen
Seite der Kaaba angebaut worden ist. Sie gibt ihr eine Richtung und wird Ismaels Hijr
genannt. Hijr bedeutet Rock (Schoß). Die halbkreisförmige Mauer ist in der Tat einem
Rock ähnlich, dem Rock einer Frau.
Es handelt sich um eine Frau aus Abessinien, eine schwarze Magd von niederer Herkunft, die
von einer Frau neidlos als Bettgenossin ihres Mannes ausgesucht wurde. Sie war es nicht
wert, als Nebenbuhlerin betrachtet zu werden, und der Mann hatte sie nur genommen, weil er
sich ein Kind wünschte; eine Frau, der in jeder Gesellschaftsordnung die Menschenwürde
abgesprochen wurde.
Und nun hat Gott das Symbol ihres Rockes mit dem Symbol Seines Wesens verbunden. Es deutet
auf den Rock Hajars hin, dort, wo Ismael aufwuchs. Das Haus Hajars befindet sich dort. Ihr
Grab liegt neben der dritten Säule der Kaaba.
Das ist erstaunlich, denn niemand, nicht einmal die Propheten, darf in den Moscheen
begraben werden; und hier grenzt das Haus Gottes an das Haus einer Magd, ja, es wird zur
Grabstätte einer Mutter. Nur hier ist eine Richtung zu erkennen. Die Kaaba erstreckt sich
bis zu diesem Symbol.
Zwischen dem Halbkreis und der Kaaba befindet sich heute ein schmaler Durchgang. Bei dem
Rundlauf um die Kaaba hätte man diesen Durchgang benutzen können, doch ohne die
Umschreitung auch dieses Teiles der Kaaba gilt der Rundlauf nicht als Hadsch, das Gebot
Gottes ist nicht erfüllt.
Zu allen Zeiten mußten
die Menschen, die an die Einzigkeit Gottes glaubten und seinem Gebot Folge leisteten,
diesen Rock umschreiten, wenn sie die Stätte der Liebe umwanderten, denn auch das Haus
von Hajar, ihr Grab und ihr Rock sind Drehpunkte des Rundlaufes; sie sind ein Teil der
Kaaba. Die Richtungslosigkeit der Kaaba hört hier auf, an dem Rock einer
afrikanischen Magd, einer guten Mutter. Hier ist der Schoß der Kaaba, der Dreh- und
Angelpunkt der Menschheit.
Der einzige Gott ist in Seiner ruhmreichen Allmacht allein, Er steht jenseits alles
Existierenden. Er braucht nichts und niemanden, und doch hat Er unter all Seinen
unzähligen Geschöpfen eines auserwählt: den Menschen; und unter allen Menschen eine
Frau, unter allen Frauen eine Sklavin und unter allen Sklavinnen eine schwarze Magd.
Das am meisten erniedrigte Seiner Geschöpfe hat einen Platz an Seiner Seite gefunden, ist
bei Ihm zu Hause. Oder ist Gott zu ihrem Haus gekommen, ihr Nachbar, ja, ihr Hausgenosse
geworden? Unter einem Dach begegnen wir Gott und Hajar. Auf diese Weise wird der
unbekannte Soldat in einer monotheistischen Gemeinschaft auserwählt.
Das Ritual der Wallfahrt ist mit der Erinnerung an Hajar aufs engste verbunden. Hidschra
(Auswanderung), eine der bedeutendsten Handlungen, geht wie Hajar auf denselben Wortstamm
zurück.
Muhajir, das ideale
Geschöpf Gottes, handelt nach dem Vorbild Hajars. Der Auswanderer ist jemand, der wie
Hajar handelt (der Prophet).
Dänn ist also Hidschra (Auswanderung) eine Handlung nach dem Vorbild Hajars, und im Islam
bedeutet sie den Übergang von der Barbarei zur Zivilisation, das heißt, vom Unglauben
zum Islam, wie auch die Arabisierung nach der Hidschra den Verfall in die Barbarei
bzw. den Rückfall in den Unglauben bedeutete. Der Unglaube ist also gleich Barbarei und
die Religion gleich Zivilisation.
Hijr bedeutet in der Muttersprache Hajars Stadt. Hier wird Hajar, die afrikanische Frau,
eine schwarze abessinische Sklavin, zum Symbol der Zivilisation. Die Auswanderung,
die Handlung nach ihrem Vorbild, ist also der Aufbruch zur Zivilisation.
Auch bei der Bewegung des Menschen um Gott bildet Hajar einen Mittelpunkt. Auf Deiner
Wanderung zu Gott vollziehst Du den Rundlauf um die Kaaba und den Schoß Hajars. Was Du
siehst, kannst Du nicht begreifen. Gott im Hause einer schwarzen afrikanischen Sklavin?
Das geht über den Horizont des Menschen im Zeitalter der Freiheit und des
Humanismus.
Tawaf (Rundlauf um die Kaaba)
Die Menschenmenge kreist um die Kaaba wie ein tosender
Strudel.
Alles bewegt sich um sie, nur sie ist regungslos; eine Sonne im Zentrum der Sterne, die
ihre Kreise um die Sonne ziehen. Beständigkeit, Bewegung und Disziplin gleich
Umwandern.
Symbolisiert diese Gleichung das Teilchen in einem großen Ordnungssystem oder das
Universum in der monotheistischen Weltanschauung? Gott ist das Zentrum der Welt, Er ist
der Mittelpunkt der Existenz, der Dreh- und Angelpunkt dieses Kreislaufes. In diesem
Ordnungssystem bist Du ein Teilchen, das sich ständig in Bewegung befindet, sich wandelt
und doch in allen Positionen und zu allen Zeiten einen gewissen Abstand halten muß. Die
Entfernung zu Ihm hängt von dem Weg und dessen Radius ab, den Du zu Ihm eingeschlagen
hast. Auch die Kaaba berührst Du nicht, dort kannst Du Dich nicht aufhalten. Für Dich
gibt es keinen Stillstand.
Es gibt keinen Pantheismus, sondern Monotheismus. Der Strudel der Menschen kreist um die
Kaaba, und die Menschen sind nur in ihrer Gesamtheit zu erkennen. Mann und Frau, Du und
ich sind nicht zu erkennen. Das Individuum ist in der Gesamtheit aufgegangen, nicht in
Gott, sondern in der Menschheit, ja, in der Gemeinschaft. Eine Entwerdung auf dem Wege zu
Ihm, für Ihn und um Ihn; die Entwerdung des Menschen als Individuum und sein Fortbestand
in der Gemeinschaft, denn Gott und die menschliche Gemeinschaft gehören zusammen. Der Weg
zu Gott führt über die Menschen. Individualismus und Einsamkeit führen nicht dorthin.
Nicht im Kloster, sondern in der Gesellschaft sollst Du Askese üben. Am Orte
des Geschehens und um der Menschen willen
kannst Du durch Nächstenliebe, Aufrichtigkeit, Selbstlosigkeit,
Leidensfähigkeit und durch das Aufdichnehmen von Entbehrungen und Gefahren zu Gott
finden, denn: ln jeder Religion gibt es eine Art Askese. Die Askese meiner Religion ist
Dschihad (der Prophetl.
Aus diesem Grunde kannst Du während des Tawaf (Rundlaufs) die Kaaba nicht betreten, dort
haltmachen oder sitzen bleiben. Du mußt in die Menge hineingehen, in der Masse der
Umwandernden aufgehen und in den Strudel der Menschen hineintauchen. In dieser
Hingabe an die Gemeinschaft der Umwandernden, in der Selbstaufgabe
gegenüber der Gesamtheit liegt die eigentliche Bedeutung der Wallfahrt. So wirst Du zu
einem Hadschi, so erfüllst Du das Gebot Gottes und findest den Weg zu Seinem Heiligtum,
dem geweihten Ort.
Die Kaaba ist umgeben
von dem reißenden, weißen Strom der sie umkreisenden Menschenmenge, die einheitlich ohne
Unterscheidung der Person dahinzieht. Hier kannst Du keinen wiedererkennen. Nur hier
siehst Du die Ganzheit.
Außerhalb der Kaaba ist sie nur ein subjektiver Begriff.
Menschheit ist nur eine Vorstellung, eine Idee, ein abstrakter Begriff. In der Außenwelt
gibt es nur Menschen; sie werden durch Namen, Geschlecht, Rasse und Nationalität
unterschieden. Fiier sind dagegen die Realitäten verwischt und subjektiv abstrakte
Wahrheiten haben konkrete Gestalt angenommen. Hier kreist nur die Menschheit um die Kaaba
und nichts anderes.
Und Du, ichbezogen wie Du bist, stehst außerhalb des Tawaf. Du bist ein Zuschauer am Ufer
dieser strudelnden Menschheit. Du bist unbeweglich, existierst also nicht. Du bist ein
Fremder, ein Individuum, ein Nichts. Du wurdest aus Deiner Kreisbahn geworfen und hast
Dein Dasein verloren. Du mußt wieder da sein. Hier lernst Du durch Selbstlosigkeit,
wieder zu sein. Durch ständige Hingabe an die Ummah (die
Gemeinschaft) findest Du allmählich zu Dir selbst. Du entdeckst
Dich selbst, Dein wahres Ich. Es ist wie bei einem Martyrium. Durch die revolutionäre
Hingabe Deines Lebens, durch das Blutzeugnis wirst Du zu einem ständig anwesenden Zeugen.
Du führst ein ewiges Dasein.
Und Du darfst ja nicht meinen,
daß diejenigen, die auf Gottes Weg getötet worden sind, (wirklichJ tot sind. Nein, sie
leben und für sie wird bei ihrem Herrn gesorgt (Koran 3/169).
Weil der Weg Gottes der Weg der Menschen ist, führt kein Weg zu Ihm über den
Individualismus. Aber was ist mit den Gebeten, die jeder einzeln verrichtet? Sie dienen
dazu, Dich zur Selbstlosigkeit zu erziehen, so daß Du die Fähigkeit erlangst, Dich für
die Gemeinschaft aufzuopfern, um ein Mensch zu werden, denn das Individuum ist
vergänglich. Nur der Mensch bleibt. Der Mensch ist Stellvertreter Gottes auf Erden und
wird es auch bleiben, solange es den einen Gott gibt. Und Du wirst ewig leben, wenn Du
Dich in dieser Unendlichkeit auflöst, denn ein Tropfen Wasser, der nicht ein Teil des
Meeres oder des Flusses ist, ist wie der Tau, dessen Leben nur eine Nacht lang währt und
der von den ersten Sonnenstrahlen aufgesogen wird, weil er stillsteht. Schließe Dich
dem
Flusse an, damit Du fließen und das Meer erreichen kannst. Warum bist Du stehengeblieben
wie der Tau? Schließe Dich diesem wohlklingenden und wogenden Strom an, dessen Ordnung an
die Harmonie der Schöpfung erinnert.
Willst Du Dich nun den Menschen anschließen, so erkläre Deine Absicht, damit Du Dir
bewußt bist, was Du tust und warum. Du tust es nicht für Dich selbst, sondern für Gott;
nicht der Politik wegen, sondern der Wahrheit wegen.
Jede Handlung bekommt hier einen Sinn. Eine strenge Ordnung herrscht in dieser ständigen
Bewegung; sie ist ein Sinnbild dieser Welt.
Der Schwarze Stein, das Treuegelöbnis
Am Fuße des Schwarzen
Steines beginnt der Tawaf; hier wirst Du ein Teil des Universums. Du schließt Dich den
Menschen an und gehst in ihnen auf wie ein Tropfen Wasser im Ozean. Du findest Deine
Umlaufbahn und setzt Dich in Bewegung zu Gott hin auf dem Wege der Menschen.
Zuerst mußt Du den Schwarzen Stein mit der rechten Hand berühren und Dich dann
unverzüglich von den Wogen des Strudels treiben lassen. Dieser Stein ist das Sinnbild
einer Hand, einer rechten Hand, der rechten Hand Gottes.
Der Schwarze Stein ist die rechte Hand Gottes auf Erden (der Prophet)
Der einzelne Mensch, um seine Existenz zu sichern, und der einzelne Stamm, um in der
Wüste überleben zu können, schlossen mit dem Stammesführer bzw. mit anderen
Stämmen Verträge. Sie waren Vertragspartner in einem Freundschafts- und
Beistandspakt.
Die Einzelnen schlossen wegen eines Vorhabens oder einer Zielvorstellung mit dem
Stammesführer einen Vertrag; er hieß: Treuegelöbnis. Er wurde geschlossen, indem die
betreffende Person ihre rechte Hand in die rechte Hand des Stammesführers legte, ihm auf
diese Weise die Huldigung entgegenbrachte und sein Vertragspartner wurde. Nach bestehendem
Brauch war sie ihrer früheren Treuepflichten entledigt, sobald sie einem anderen Führer
die Hand reichte. Nun, in dem entscheidenden
Augenblick, in dem Du Deinen Weg, Dein Ziel und Dein Schicksal bestimmst, zu Beginn
der Hingabe Deines Selbst und des Einswerdens mit den Menschen, lege das Treuegelübde vor
Gott ab, ergreife die rechte Hand Gottes, die Dir entgegengestreckt ist. Bringe Ihm die
Huldigung entgegen, werde Sein Vertragspartner, löse Deine früheren Gelöbnisse und
Bindungen, erkläre alle Verträge, die auf der Basis der Macht, des Reichtums und
des Betruges geschlossen worden sind, für nichtig, befreie Dich von den
Verpflichtungen gegenüber den irdischen Göttern, den Stammesführern, den
Aristokraten der Qureisch und den Hauseigentümern, denn Gottes Hand ist (bei ihrem
Handschlag mit DirJ über ihrer Hand (Koran 48/10).
Berühre Gottes Hand,
sie ist über der Hand derer, die Dir in früheren Bündnissen die Hände gebunden hatten.
Nun bist Du von allen anderen Gelöbnissen befreit. Du hast Gott die Hand gereicht und
Dein ursprüngliches Gelübde erneuert.
Du bist Vertragspartner Gottes und stehst im Wort. Schließe Dich den Menschen an, bleibe
nicht stehen, setze Dich in Bewegung, suche Deine Umlaufbahn, treffe Deine Wahl, tauche in
die Menge hinein, verrichte den Tawaf, trete ein!
Wie ein Bächlein, das in einen mächtigen und reißenden Strom fließt, bewegst Du Dich
fort, läßt Du das Ich hinter Dir zurück, schließt Du Dich der Gemeinschaft an,
umkreist Du das Haus, wobei Du einen möglichst kurzen Radius anstrebst. Du fühlst Dich
nicht allein, Du bewegst Dich in der Gemeinschaft, allmählich hast Du das Gefühl, daß
Du Dich nicht bewegst, sondern von der Gemeinschaft bewegt wirst. Die Füße, die Dich als
Individuum aufrecht hielten, sind frei und entlastet; sie tragen Dich nicht mehr.
Du wirst von der Woge der Begeisterung und der Anziehungskraft der Gemeinschaft getragen;
Du bist nicht mehr. Es gibt nur noch die Gemeinschaft. Je weiter Du in die Mitte rückst,
um so stärker wird der Druck. Die Gemeinschaft kann das Ich in Dir nicht vertragen.
Du wirst aufgerieben und aufgelöst und gehörst dem lebendigen,
ewigen und beweglichen Körper der Gemeinschaft.
Du bewegst Dich nicht zu Dir, sondern zu ihr. Du schließt Dich der Gemeinschaft an, nicht
aus Berechnung, sondern aus Liebe.
Siehe Abrahams Gott,
wie er das Verhältnis Seines Dieners zu sich mit dessen Verhältnis zur Gemeinschaft in
Verbindung bringt. Auf welch eine tiefsinnige Weise führt Er Dich durch die
Anziehungskraft Seiner Liebe zu der Gemeinschaft. Hier suchst Du die Begegnung mit
Gott und findest Dich im Menschengewühl. Seinem Gebot folgend, bist Du in Sein Haus zu
einem Privatbesuch gekommen. Nun, nachdem Du den langen Weg gemacht hast, wird Dir
bedeutet, Dich der Gemeinschaft anzuschließen, das Haus nicht zu betreten, am Hause nicht
stehenzubleiben, ja, nicht auf das Haus zuzugehen, sondern Schulter an Schulter mit
anderen Menschen vorbeizuziehen und, den Blick nach vorne gerichtet, die Kaaba zu
umkreisen; denn das Verlassen der Umlaufbahn in Richtung der Kaaba macht den Tawaf
ungültig. Bleib nicht stehen, weiche nicht
nach rechts oder links, kehre und blicke nicht zurück. Du ziehst an der Kaaba vorbei und
darfst sie nicht besuchen. Du darfst Dich nicht nach der Qibla umdrehen, denn sie ist
immer vor Dir.
Nun bist Du ein Teil der Schöpfung geworden, Du befindest Dich in der Umlaufbahn dieses
Sonnensystems, Du kreist um die Sonne der Welt (Kaaba) wie ein Himmelskörper, Du drehst
Dich um Gott und allmählich fühlst Du Dich nicht mehr. Nur das Gefühl der Liebe
und der Liebesbegeisterung übermannt Dich. Du bist hingerissen! Du kreist und kreist und
siehst außer Ihm keinen. Du bist nichts und fühlst doch Deine Existenz. Du existierst
und fühlst doch, daß Du nicht mehr bist. Du warst nur ein Punkt und nun bist Du eine
fortlaufende Linie, die ständig in Bewegung ist, um Ihn und zu Ihm. Du bist die
Zuversicht und die Hingabe selbst, dies ist höher als jede Freiheit, ein Zwang, den Du
frei gewählt
hast.
Die Liebe hat ihren
Höhepunkt erreicht; sie ist absolut. Du hast Dich von Deinem Ich losgelöst. Allmählich
näherst Du Dich Ihm immer mehr. Du bist von Kopf bis Fuß Liebe. Du gibst Dich hin.
Wollten wir die Liebe als eine Art Bewegung interpretieren, so würden wir an die
Schmetterlinge erinnert. Die Kaaba ist der Mittelpunkt Deiner Liebe und Du ziehst wie ein
Zirkel Kreise um sie.
Da ist Hajar, unser Vorbild. Gott, die große Liebe und Stütze der Menschheit, hat ihr
befohlen, ihre Heimat mit ihrem Säugling zu verlassen, um in ein entsetzliches Tal des
Schreckens auszuwandern, wo nicht einmal Disteln wachsen. Hingebungsvoll folgte sie diesem
Gebot, das nur aus Liebe befolgt und verstanden werden kann.
Eine einsame Frau mit ihrem Kind in einem abgelegenen Tal, umgeben von kahlen, verbrannten
Bergen undvulkanischen Gesteinen.
Ohne Wasser, ohne Zufluchtsstätte, verlassen, aber warum? Er hat es gewollt, Er hat
absolute Zuversicht verlangt, die durch Verstand, Berechnung und Logik nicht erfaßt
werden kann. Ohne Wasser kann sie nicht existieren. Das Kind braucht Milch und sie die
Gesellschaft eines anderen Menschen. Als Frau und Mutter braucht sie einen Beschützer.
Doch wer von Liebe beseelt ist, nimmt Entbehrungen auf sich. Der von der Liebe zu Gott
erfüllte Mudschahid kann seinen Kampf auch mit bloßen Händen führen.
Ihr, die Einsamen, Mutter und Kind, verlaßt Euch auf Ihn! Nehmt Zuflucht zur Liebe, habt
Gottvertrauen!
Nach der 7. Runde des Umlaufs beendest Du den Tawaf. Die Zahl Sieben ist nicht nur die
Summe von sechs und eins, sie erinnert vielmehr an die Schöpfung. Dein Tawaf um Gott, das
heißt, Deine Hingabe an die Menschen, ist ein immerwährendes, unendliches Fortschreiten
auf dem Wege der Menschen.
Hast Du Dich während
des Tawaf nicht als ein Teil des Universums gefühlt? Ist der Tawaf um einen Mittelpunkt
nicht eine eindrucksvolle Demonstration der Existenz? Eine anschauliche Interpretation des
Monotheismus durch Bewegung?
Nun verrichtest Du ein zweiteiliges Gebet in Maqam Ibrahim (Stätte Abrahams).
Maqam Ibrahim ist eine Stätte, in der ein Stein mit den Fußabdrücken Abrahams
aufbewahrt wird. Er hat auf diesem Stein gestanden und den Hajar al-Aswad (Schwarzen
Stein), den Grundstein der Kaaba, gelegt. Er stand dort und baute die Kaaba.
Es ist eine ergreifende Szene. Bist Du Dir der Tragweite Deines Handelns bewußt? Was
alles der Glaube an den einzigen Gott zur Folge hat! Einmal wirst Du bis zur Selbstaufgabe
gedemütigt und zum Abschaum erniedrigt, ein andermal hoch in den Himmel gehoben,
neben Deinen Schöpfer gesetzt, zu Gott in Privataudienz geführt, Gottes Verwandter und
Sein Ebenbild genannt.
Du wirst geschlagen, verneint, aufgelöst, zerstört, gedemütigt, versklavt,
unterworfen und dann doch gerufen wie ein Freund, Gefährte, Getreuer, Vertrauter,
Zuhörer, die Krone der Schöpfung und ein Intimfreund. Es ist noch nicht lange her, daß
Du massiven Vorwürfen ausgesetzt warst, als Du am Rande des Tawafgeschehens standest, nur
an Dich selbst dachtest, abseits der Gemeinschaft auf eigsnen Füßen standest und nur ein
Zuschauer warst, denn ein reißender Strom bewegt sich und hat ein Ziel, er bleibt nicht
stehen und wird nicht faulig, er fließt rauschend und reißt alles mit sich, und am Ende
erreicht er das gelobte Land und verwandelt es in das Paradies. Du bleibst zurück, setzt
Dich ab wie Bodensatz: fest, trocken und rissig (aus Ton gleich der Töpferware) Koran
55/141. Und Du überdeckst das Land, die Blumen und die Pflanzen (Verschleierung
göttlicher Gnaden = Ungläubigkeit), und so vergräbst und vernichtest Du Tausende von
Samen, die dazu bestimmt sind, aus der Erde zu sprießen, in den Himmel emporzuwachsen und
der Sonne entgegenzueilen.
Aber scheitern wird, wer es verkommen läßt ( Koran 91 /1)
Der Fluß rauscht
lebenspendend wie Christus, und Du bleibst stehen in einem Loch, in dem Schlupfwinkel
Deiner Individualität, im Tümpel des Egoismus, in der Zurückgezogenheit des
Gefängnisses und hinter den Mauern des Individualismus. Es ist belanglos, ob Du Dich
dabei vergnügst oder Enthaltsamkeit übst. Du wirst verkommen wie das
stehende, faulige Wasser, der Wurm der Schlechtigkeit wird sich in Deinem Herzen einnisten
und sich fortpflanzen, Deine Farbe wird sich verändern, Dein Gesicht wird entstellt sein
und Du wirst zu einem stinkenden Sumpf: zu einer feuchten Tonmasse.
Es wäre schön, den Stein zu überwinden, auch wenn Du mit dem Kopf dagegen anrennen
mußt, denn es fließt leicht, wenn Du die Ebene oder das Tal zu überqueren hast.
Doch Dein Herz ist wie ein Sumpf, still, reglos und ungerührt. Fließe wie ein reißender
Strom, überwinde und reiße alles mit. Pilgere, schließe Dich dem Strudel der
umkreisenden Menschen an, verrichte den Tawaf.
Nun, nachdem Du im Meer der liebenden Menschen und im Strudel der pilgernden Menschheit
versunken warst und Dein ichbezogenes und vergängliches Dasein wegen des
gottbezogenen und ewigen Daseins der Menschen aufgegeben hast, nachdem Du von den Wogen
des Nichts-Seins getragen worden bist und auf dem Wege der Menschen in die göttliche
Umlaufbahn gelangt bist und Dich in der ewigen und unendlichen Umlaufbahn befindest, nun
bist Du wie Abraham.
Abrahams Stätte
Erhebe Dich aus der Versunkenheit des Tawafgeschehens! Lebe nach
dem Tode, sei nach dem Nichts-Sein, gehe dort auf, wo Du untergegangen bist: am Horizont
des eigenen Ich! Nun steigt Dein göttliches Ich, der Geist Gottes, der in Dir, in Deinem
irdischen Wesen weilte, aus dem Strudel empor. Dort, an der rechten Hand Gottes, hast Du
nach der Entwerdung Deines trügerischen Ich zu Deinem wahren Selbst gefunden.
Im reinen und weißen Ihram, im Hause Gottes, in der Rolle Abrahams, stehst Du an dieser
Stätte. Du trittst in die Fußstapfen Abrahams, stehst vor Gott und betest zu
Ihm.
Abraham war der größte Götzenzerstörer der Geschichte, der Begründer
des Monotheismus in der Welt, ein geduldiger Rebell, ein führender Aufrührer, ein
Prophet, beauftragt, sein Volk mit Liebe und Weitsicht zu führen, aber auch mit der Axt
in der Hand!
In der tiefen Finsternis des Unglaubens leuchtet das Licht des Glaubens, aus den
Niederungen der Vielgötterei wächst der Glaube an den einzigen Gott empor. Aus dem Hause
Azars, des Götzenmachers seines Stammes, geht Abraham hervor, der Götzenzerstörer der
Menschheit.
Er zerstörte nicht nur die Götzen, sondern bekämpfte die Unwissenheit und
Unterdrückung, er wandte sich gegen Stillstand, Friedhofsruhe und repressive Sicherheit.
Er war der Vorkämpfer der Bewegung, die Quelle der Hoffnung, der Mann des Glaubens und
der Begründer des Monotheismus.
Auch Du bist Abraham! Betrete
das Feuer, das Feuer der Unterdrückung und der Unwissenheit, um die Menschen daraus zu
befreien. Jeder verantwortungsbewußte Mensch muß diese Feuerprobe bestehen. Er ist
verantwortlich für das Licht und die Erlösung.
Doch der einzige Gott verwandelt das Feuer Nimrods für die Anhänger Abrahams in Rosen.
Du wirst nicht verbrennen und nicht zu Asche werden, sondern zeigen können, wie weit Du
Dich in Deinem Dschihad an das Feuer heranwagst und ob Du bereit bist, durchs Feuer zu
gehen, um die anderen daraus zu befreien; ob du bereit bist, das schwerste Martyrium auf
Dich zu nehmen.
Du bist Abraham, opfere Deinen Ismael. Setze ihm das Messer mit beiden Händen an die
Kehle; auf diese Weise bleiben die Menschen vor Deinem Messer verschont, Menschen, die an
der Schwelle der Macht und des Reichtums geopfert werden. Setze das Messer an die Kehle
Deines Ismael, um die nötige Kraft und Einsicht zu erlangen, dem Henker das Messer aus
der Hand zu schlagen. Doch Abrahams Gott wird Ismael loskaufen.
Du tötest ihn nicht, Du verlierst Deinen Ismael nicht, sondern zeigst lediglich, daß Du
bereit bist, für Deinen Glauben eigenhändig Deinen Sohn zu opfern und noch mehr Leiden
auf Dich zu nehmen als die des Märtyrertodes.
Nun hast Du den Tawaf
der Liebe verlassen und bist an der Stätte Abrahams angekommen.
Als Abraham hier ankam, hatte er ein ereignisreiches Leben hinter sich. Er hatte Götzen
zerstört, Nimrod bekämpft, die Qualen der Folter und des Feuers überstanden, seinen
Sohn Ismael als Opfer dargeboten und war zu Auswanderung, Heimatlosigkeit und
Einsamkeit verurteilt. Der Prophet hatte den
Führungsauftrag (Imamat) übernommen. Sein Weg führte aus dem Individualismus in
die Gemeinschaft. Das Familienmitglied des Götzenmachers Azar wurde zum
Erbauer der Stätte des Monotheismus.
Und nun steht er hier, ergraut und beauftragt, in der letzten Phase eines Lebens, das zu
Geschichte geworden ist, das Haus mit dem Schwarzen Stein, das Haus Gottes, zu bauen.
Ismael ist sein Gehilfe. Er trägt die Steine und reicht sie dem Vater. Das Haus Gottes
wird errichtet.
Es ist seltsam, daß Ismael und Abraham mit der Erbauung der Kaaba beauftragt worden sind.
Sie kamen beide bis an den Rand der Vernichtung; dieser wurde vor dem Feuer bewahrt und
jener vor dem Opfertod. Nun sind sie beauftragt, den ältesten Tempel des Monotheismus auf
Erden, das erste Haus der Menschen in der Geschichte, das Haus der Freiheit und die Kaaba
der Liebe und Anbetung zu bauen. Haram ist ein Sinnbild der himmlischen Geborgenheit und
der sittlichen Reinheit.
Nun stehst Du an der Stätte Abrahams. Seinen Spuren folgend, steigst Du zu dem höchsten
Punkt, den Abraham erreicht hatte. Dort ist er Gott am nächsten gekommen: in der Stätte
Abrahams. Abraham, der Erbauer der Kaaba, der Architekt des Hauses der Freiheit, der
Begründer des Monotheismus, der Kämpfer gegen die Götzen, der verantwortungsbewußte
Führer des Stammes, der von Nimrod Verfolgte, kämpfte gegen Unwissenheit, Vielgötterei,
die Versuchungen Satans und jeden heimtückischen Kerl, der den Menschen böse Gedanken
einflüstert ( Koran 114/5).
Nachdem er die Qualen
der Verfolgung durchlitten, die Feuerprobe bestanden und seine Opferbereitschaft bewiesen
hatte, baute er ein Haus - nicht für sich oder seinen Sohn Ismael, sondern für die
Menschen, für Schutzsuchende, Verfolgte, Flüchtlinge und für diejenigen, die auf der
ganzen Erde gehetzt werden und keine Zuflucht finden, denn Nimrods gibt es überall auf
der Welt. Das Haus soll wie eine Fackel des Glaubens in der tiefen Finsternis der
Unwissenheit leuchten. Es ist ein Symbol der Hoffnung für die Unterdrückten.
Es bietet Geborgenheit, Sicherheit, Reinheit und Freiheit für die Menschen, für die
Familie Gottes; denn andernorts herrscht überall Niedertracht und Unsicherheit. Die Erde
ist zu einem Freudenhaus geworden: groß und schamlos. Sie ist in einen Schlachthof
verwandelt worden, in dem nur Aggression und Diskriminierung herrschen.
Und Du, der Du in der Rolle Abrahams erscheinst an der Stätte seines Wirkens, in seine
Fußstapfen trittst und die Hand seinem Gott als Zeichen der Unterwerfung
entgegenstreckst, lebe wie Abraham! Sei der Architekt des Glaubens Deiner Zeit, hilf
Deinen Leuten, sich aus dem Sumpf des Lebens herauszuziehen, wecke sie aus ihrem tiefen
Schlaf, befreie sie vom Joch der Unterdrückung, führe sie aus der Finsternis der
Unwissenheit, gib ihnen eine Zielrichtung, rufe sie zum Hadsch und lasse sie den Tawaf
vollziehen.
Und Du, der Verbündete Gottes, der Gefährte Abrahams, kehrst nun vom Tawaf zurück. Dort
bist Du in den Menschen aufgegangen und bist in Gestalt Abrahams wieder erschienen. Du
stehst an der Wirkungsstätte des Architekten der Kaaba und des Erbauers des
Haram und der Masdschid al-Haram. Hier begegnest Du Deinem
Schöpfer und Verbündeten. Daher
- mach Dein Land zu einer Stätte der Geborgenheit, als verweiltest Du in Haram,
- mach Deine Zeit zu einer Epoche von Frieden und Sicherheit, als wärest Du immer
im Zustand
des Ihram,
- mach Deine Erde zu einer sicheren Moschee, als wärest Du noch in Masdschid
al-Haram,
denn die Erde ist die Moschee Gottes, aber wie Du siehst, ist sie es in
Wirklichkeit nicht.
Sa'y
Wenn Du das Tawaf-Gebet an der Stätte Abrahams beendet hast,
begibst Du Dich zu Masaa. Es ist die Entfernung zwischen den Bergen Safa und Marwah
und sie beträgt über 300 Meter. Siebenmal gehst Du zwischen diesen beiden Bergen hin und
her. Du beginnst an der Spitze des Safa und gehst hinunter. Ein Teil des Weges, den Du
schnellen Schrittes zurücklegst (Harwalah), verläuft parallel zur Kaaba. Danach gehst Du
normal zum Fuße des Marwah.
Sa'y heißt streben. Es ist eine Bewegung mit Ziel und Richtung, verbunden mit Eile und
Schnelligkeit.
Während des Tawaf handeltest Du wie Hajar. An der "Stätte" handeltest Du wie
Abraham und Ismael. Beim Verrichten des Sa'y findest Du Dich wieder in der Rolle von
Hajar.
Hier sind alle gleich: Gestalten, Muster, äußere Erscheinungen, Grade, Eigenarten,
Persönlichkeiten, Grenzen, Unterschiede, Entfernungen, Auszeichnungen und Farben sind
aufgehoben. Nur der Mensch und die bloße Menschlichkeit sind gefragt. Glaube und Liebe,
Überzeugung und Tat, sonst nichts. Hier wird über niemanden geredet, auch nicht über
Abraham, Hajar und Ismael. Das sind keine Individuen, sondern Worte und Sinnbilder. Hier
existieren nur Bewegung und Festigkeit, Menschheit und Gottheit und dazwischen die
Ordnung. Und das ist Hadsch: Der Aufbruch zu einer ständigen Bewegung in eine bestimmte
Richtung. Genauso bewegt sich auch die ganze Welt. Hier beim Sa'y bist Du wie Hajar, eine
Frau aus der geächteten und gedemütigten afrikanischen Rasse, eine schwarze abessinische
Sklavin, die Sklavin von Sarah. Doch das ist sie nur in einer polytheistischen
Gesellschaftsordnung. Im Monotheismus ist diese Sklavin Gesprächspartnerin Gottes. Sie
ist Mutter der Propheten und die Verkörperung der höchsten und heiligen Werte, die Gott
erschaffen hat. Sie ist die überragende Gestalt auf dieser Bühne. Sie ist die einzige
Frau und Mutter im Hlause Gottes. Dem Gebote Gottes gehorchend, nahm sie ihr Kind im
Säuglingsalter aus seiner gewohnten Umgebung in der Stadt und aus der
Familiengemeinschaft und brachte es in diese kahlen und steinigen Berge, allein und ohne
Lebensmittelvorräte, allein mit ihrer Liebe. Sie ließ ihr Kind auf Geheiß Gottes in
diesem Tal zurück, in einem ausgedörrten, trostlosen, von der Hitze glühenden Tal ohne
jegliche Vegetation, in einem Tal des Schreckens und des Todes als Zeichen absoluten
Gottvertrauens.
Wie erstaunlich! Es war das Gebot Gottes. Ihr wurde gesagt, daß Gott sich ihrer und ihres
Sohnes annehmen und für ihr tägliches Brot sorgen würde. Du, Hajar, die Verkörperung
der Hingabe, des Glaubens und des Vertrauens in die Liebe, stehst unter meinem Schutz.
Hajar unterwarf sich dem Willen Gottes und ließ ihr Kind in diesem Tal zurück. Es war
Sein Wille, der Wille des Geliebten.
Doch Hajar, die Hingabe in Person, machte sich bald auf und wanderte auf der Suche nach
Wasser von einem ausgedörrten Berg zum anderen. Sie suchte unermüdlich, war ständig in
Bewegung, vertraute auf das eigene Durchhaltevermögen, auf den eigenen Willen und
Verstand. Und was war sie? Eine Frau, eine Mutter, einsam, obdachlos, kämpfend, suchend,
vertrauensvoll, verstört, leidend, schutzlos, heimatlos, isoliert von ihrer Gemeinschaft,
von niederer Abstammung und Klasse, eine Gefangene, eine Fremde,
eine Sklavin, von Haß verfolgt, von den Aristokraten abgelehnt, von den Völkern, Rassen,
Klassen, ja sogar von der eigenen Familie gehaßt, eine schwarze Magd mit ihrem Kind in
den Armen, verbannt aus dem Haus, aus der Stadt und aus dem Land der höheren .
Rasse, verirrt in der
Wüste der Einsamkeit, Gefangene in entlegenen Bergen, ruhelos, doch voller Hoffnung,
Wasser zu finden, ständig : auf der Suche von einem Berg zum anderen wandernd, ohne zu
klagen.
Das ist der Kulturbringer (Prometheus) der Tradition Abrahams; kein Gott, sondern eine
Sklavin. Sie schenkte kein Feuer, sondern Wasser, ja, Wasser! Nichts Verborgenes und
Metaphysisches, keine Liebe, Hingabe und Unterwerfung, kein Lebenselexier und keinen ,
Weisheitstrank, keine Mystik und keinen Himmel, sondern nur Trinkwasser. Kein Wasser von
höheren Sphären, sondern aus einer Quelle dieser Erde, rein materiell. Die gleiche
Flüssigkeit, die auf der Erde fließt, nach der das materielle Leben so dürstet. Der
Körper verlangt es, weil es zu Blut in Deinen Adern wird. Es wird zu Milch in der
Mutterbrust, die den Durst des Kindes stillt.
Die Suche nach dem Wasser symbolisiert das materielle Leben auf dieser Erde, die
objektiven Bedürfnisse des Menschen, seine Verbundenheit mit der Natur und seine
Sehnsucht nach dem diesseitigen Paradies und den irdischen Früchten.
Und Sa'y ist eine materielle Bestrebung, das Streben nach Brot und Wasser, der Versuch,
Dich und Deine Familie am Leben zu erhalten, ja, besser zu leben. Auf Dir lastet die
Verantwortung für den Durstigen, der auf Dich wartet. In dieser glühenden Wüste mußt
Du Wasser finden, um seinen Durst zu stillen.
Sa'y ist die Mühsal
auf dieser Erde, die Anstrengung, der Natur zu entreißen, was Du brauchst, und in das
Herz der Erde vorzustoßen, wenn Du Wasser suchst. Sa'y symbolisiert materielle
Bedürfnisse, Handlungen und Ziele.
Es ist das Sinnbild der Wirtschaft, der Natur und der Arbeit. Es handelt von dem Menschen,
seinen Bedürfnissen und seinen Überlegungen, sie zufriedenzustellen.
Das ist ein erstaunlicher Vorgang. Die Handlungen von Tawaf und Sa'y folgen dicht
aufeinander und sind in ihrer Art doch weit voneinander entfernt. Zwischen ihnen
liegt die Entfernung zweier Gegensätze.
Tawaf ist die absolute Liebe, Sa'y die absolute Vernunft. Bei Tawaf dreht sich alles
um Ihn, bei Sa'y nur um Dich. Tawaf ist die göttliche Vorbestimmung,
Sa'y die menschliche Selbstbestimmung.
Bei Tawaf ist der Mensch wie ein Falter, der eine Kerze so lange
umkreist, bis er Feuer fängt, in den Flammen der Liebe aufgeht und entschwindet, und bei
Sa'y ist er wie ein Adler, der aus eigenem Antrieb zu immer höheren Gipfeln fliegt und
seine Beute überall ausfindig macht. Er beherrscht Himmel und Erde, trotzt Wind und
Wetter, kennt keine Grenzen und überwindet hohe Berge und weite Ebenen.
Tawaf versinnbildlicht den von der Wahrheitsliebe ergriffenen Menschen und Sa'y
denjenigen, der von der Realität geprägt ist.
Tawaf ist die Darstellung des erhabenen Menschen, Sa'y das Sinnbild des mächtigen.
Tawaf ist Liebe, Verehrung, Geist, Schönheit, Opferbereitschaft, Martyrium, Moral, Güte,
Werte, Spiritualität, Subjektivität, Wahrheit, Glaube, Gottesfurcht, Enthaltsamkeit,
Demut, Gotteserfahrung, Erleuchtung, Herzlichkeit, Hingabe, Vorbestimmung,
Transzendenz, Himmel, Verborgenheit, Gotteswille, Gehorsamkeit,
Gottvertrauen, Mitmenschen, Religion, Jenseits, Auferstehung, Gott
und alles, was die Seele des Ostens bewegt.
Sa'y ist Vernunft, Logik, Bedürfnis, Leben, Realität, Objektivität, Erde, Materie,
Natur, Wohlstand, Denken, Wissenschaft, Technik, Interesse, Profit,
Genuß, Zivilisation, Wirtschaft, Trieb, Leib, Selbstbestimmung, Wille,
Beherrschung, Lebensunterhalt, Macht, Diesseits, Selbst und alles, was den Westen zu
Anstrengungen veranlaßt.
Tawaf handelt von Gott und Sa'y von den Menschen. Bei Tawaf geht es um die Seele und bei
Sa'y um den Leib. Tawaf handelt von den Leiden des Daseins und den Sorgen des Himmels und
Sa'y von den Freuden des Lebens und den Annehmlichkeiten der Erde.
Tawaf ist das Verlangen nach Durst, und Sa'y ist die Suche nach Wasser. Tawaf ist die
Hingabe des Falters, und Sa'y ist der Höhenflug des Adlers.
Hadsch ist die Synthese
zweier Gegensätze. Gegensätze, die den Menschen im Laufe der Geschichte schon immer
beschäftigt haben: Materialismus oder Idealismus, Rationalismus oder Erleuchtung,
Diesseits oder Jenseits, Wohlstand oder Askese, irdische oder himmlische
Gaben, Selbst- oder Vorbestimmung und schließlich Selbstvertrauen oder Gottvertrauen.
Abrahams Gott stellt Dich da vor keine Alternativen. Er lehrt Dich, diese Gegensätze
aufzuheben.
Dazu braucht Er weder Philosophie noch Mystik, weder Wissenschaft noch Worte. Er empfiehlt
Dir, dem Beispiel eines vorbildlichen Menschen nachzueifern. Dieser Mensch, bei dem die
Philosophen, Mystiker, Gläubigen und Wahrheitssuchenden
in die Schule gehen müssen, ist eine Frau, eine ,schwarze abessinische Sklavin,
eine Mutter. Dem Gebot der Liebe gehorchend, unterwirft sie sich Ihm mit absoluter
Hingabe. Sie nimmt ihr Kind aus seiner gewohnten Umgebung in der Stadt und bringt es in
dieses glühende und öde Tal, in ein Tal ohne Wasser und Vegetation. Das zeugt von
absolutem Vertrauen zu Gott, einem Vertrauen gestützt auf Liebe und Glauben ohne jegliche
Berechnung. Doch sie sitzt nicht tatenlos neben ihrem Kind, sie wartet nicht auf ein
Wunder, nicht auf himmlische Gaben und nicht auf paradiesische Flüsse.
Sie vertraut ihr Kind dem Geliebten an und nimmt ihre Bemühungen sofort auf. Sie steht
mit beiden Füßen fest im Leben und tastet sich mit beiden Händen vor. Einsam, durstig,
obdachlos, getrieben vom Verantwortungsbewußtsein, sucht sie in der Fremde, in den kahlen
Bergen von Mekka nach Wasser. Ein aussichtsloses Unterfangen! Ist hier von Hajar die Rede
oder vom Menschen an sich?
Hajars Bemühungen
scheitern und sie kehrt hoffnungslos zu ihrem Kind zurück. Etwas Erstaunliches ist
geschehen. Ungeduldig von dem quälenden Durst hat das Kind, das im Vertrauen auf die
Güte Gottes sich selbst überlassen wurde, mit beiden Füßen im Sande gegraben. Als alle
Bemühungen zu keinem Ergebnis führten, geschah im Augenblick der
Hoffnungslosigkeit plötzlich das Unerwartete. Es war wie ein Wunder. Die treibende Kraft
der Not und die Macht der göttlichen Liebe ließen die lebenspendende Quelle aus
dem Schoße der Erde sprudeln. Und die Lehre daraus?
Letztlich führt Dich die Liebe zum Wasser und nicht die Suche danach. Doch zuerst mußt
Du danach streben. Auch wenn Du mit Strebsamkeit allein nicht zu Ihm findest, strebe zu
Ihm, so gut Du kannst. Bemühe Dich, gestützt auf die Liebe, und strenge Dich an im
Glauben an Gott und mit absolutem Vertrauen zu Ihm.
Siebenmal legst Du die Strecke zurück, geradewegs und nicht im Kreise laufend, denn wer
sich im Kreise bewegt, kommt nicht von der Stelle. Es wäre eine absurde Handlung, eine
Anstrengung ohne Sinn und Zweck: Arbeiten, um zu essen, essen, um zu arbeiten, und
schließlich der Tod. Doch wir leben für Gott und nicht bloß, um zu leben. Wir arbeiten
für die Menschen und nicht bloß, um zu arbeiten. Die Bewegung verläuft in einer geraden
Linie. Es ist kein Spaziergang, sondern eine Wanderung mit Maß und Ziel. Eine Wanderung
von Safa bis Marwah.
Siebenmal gehst Du diese Strecke hin und her. Eine ungerade Zahl ist festgelegt, so daß
Du nicht wieder dort ankommst, wo Du das Sa'y begonnen hast. Siebenmal heißt, ständig,
unermüdlich und lebenslang vorwärts zu streben, bis Du in Marwah ankommst. Erhebe Dich
aus dem Strudel der Selbstentäußerung, wandle auf den Spuren Adams und gehe den Berg
Safa wie Hajar hinauf. Auch Du bist einsam, obdachlos, verbannt in die Wüste der Erde und
rennst, getrieben von Verantwortungsbewußtsein und gepeinigt von Durst, der Fata Morgana
des Lebens nach. Gehe hinauf und betrachte den weißen Strom der vorwärtsstrebenden
Menschen, die hinuntereilen und auf der Suche nach Wasser die glühende Wüste
durchquereri, den Berg Marwah hinaufklettern und unverrichteter Dinge sorgenvoll und
durstig zurückkehren. Sie kommen wieder in Safa an, dort, wo die Mühsal begonnen hat.
Die Suche nach Wasser zwischen Safa und Marwah wiederholt sich siebenmal (ständig). Sie
finden zwar bis zum Schluß kein Wasser, doch sie kommen in Marwah an.
Schließe Dich dem reißenden Strom der Menschen an, tauche ein in die Menge, verrichte
das Sa'y. Lege den Teil des Weges, der zur Kaaba parallel verläuft, schnellen Schrittes
zurück (Harwalah).
Das ist das Ende des elften Kapitels. Wir möchten hier unsere
Vorstellung dieses wichtigen Ereignisses beenden. Jeder Muslim sollte unter den gegebenen
Vorraussetzungen, einmal in seinem Leben diese ihm auferlegtern Pflicht nachkommen, da
dies zu den fünf Säulen des Islams angehört.
Wir weisen für den Interessierten auf das Buch von dem oben genannten Autor, der
auch andere Bücher verfaßt hat.
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