IZ-Serie: Eine Studie über die muslimischen Regeln der
Ökonomie - Von Umar Ibrahim Vadillo
Es wird generell angenommen, dass es um die Dinge des materiellen Wohlstandes niemals
besser stand als heute. Die Annahme besteht, obwohl wir gerade das mörderischste
Jahrhundert der menschlichen Geschichte hinter uns gelassen haben, welches zum ersten Mal
den Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen eine zivile Bevölkerung sah, die
unglaubliche Auslöschung des Ökosystems und die größte jemals bekannte Zahl von
Hungernden. Dieses Elend gerät in Vergessenheit angesichts der allgemeinen Annahme, dass
eine durchschnittliche Person heute einen Lebensstandard hat, der nicht seines Gleichen
kennt.
Und doch gilt dies nicht für alle Menschen auf der Welt. Während für einen kleinen Teil
der Weltbevölkerung eine materielle Verbesserung erreicht wurde, lebt die Hälfte der
Menschen unterhalb der Armutsgrenze von zwei US-Dollar pro Tag; kein Vergleich zu den
Einkommen der größten 387 Verdiener. Dieses Ungleichgewicht im Wohlstand geht Hand in
Hand mit einer damit zusammenhängenden politischen und militärischen Unausgeglichenheit.
Während der Periode der massiven Verschiebung von Reichtum in eine kleine Ecke der Welt,
haben die Muslime einen immensen Teil ihres früheren wirtschaftlichen und politischen
Ranges verloren. Ihre politische Einheit, vertreten durch das Khalifat, welches den
Muslimen eine Stimme in der Welt garantierte, wurde verheert. Stattdessen enstand unter
der Führung und im neuen rechtlichen Rahmen der Vereinten Nationen eine Anzahl winziger
neuer Länder. Große Teile unserer Bevölkerungen gehören zu der unteren Hälfte der
Einkommen, und alle muslimischen Bruttosozialprodukte vereint erreichen nicht einmal zehn
Prozent des Bruttosozialprodukts der USA. Politisch geteilt, und Verlierer der
wirtschaftlichen Verteilung, sehen sich die Muslime nur der Aussicht gegenüber, die
Verlierer der heutigen wirtschaftlichen Ordnung zu sein. Unter dem Einfluss dieser Ordnung
war eine Erosion unseres sozialen und kulturellen Lebens unausweichlich, welche wiederum
zu der gesteigerten Wut und Frustration unserer Jugend geführt hat.
Das gegenwärtige System des Ungleichgewichts arbeitet selbst erhaltend, indem es die
Aufmerksamkeit der Menschen von wirtschaftlichen Fragen ablenkt und auf politische
Angelegenheiten fokussiert. Die ökonomische Seinsweise, die dieses Ungleichgewicht
verursacht, wird wegen der Überlagerung durch politische Debatten als gegeben erachtet.
Unter diesen Umständen wird die wirtschaftliche Ordnung nicht hinterfragt, was ihre
Fortdauer garantiert. In ihrem Kern beruht die wirtschaftliche Seinsweise, die wir
Kapitalismus nennen, auf Wucher. Wucher ist in sich selbst ein Ungleichgewicht.
Mechanisierter Wucher hat durch die Transmission durch das Bankwesen seinen kriminellen
Vertrag in ein Mittel zur ökonomischen Beherrschung verwandelt. Eine Gesellschaft, die
die Dynamiken dieser Welt nicht versteht, wird es schwierig finden, ihre Ziele zu
verwirklichen. Sie wird mit der Emotion des Augenblicks fortgefegt. Das Verständnis von
Riba ist wesentlich, um den Kapitalismus zu verstehen. Dieses islamische Verständnis von
Riba ermöglicht es, in den muslimischen Ländern Handlungsweisen wieder zu errichten, die
helfen, die jetzige Misere überwinden zu können. In diesem Text möchten wir einen Blick
auf die Frage nach Riba werfen.
Allah sagt im Quran (Al-Baqara): Allah hat den Handel erlaubt und den Wucher
verboten. Riba steht für das Gegenteil von Handel, sie ist das Verderben des
Handels. Es kann keinen Handel mit Riba, noch Riba mit Handel geben. Und doch wurde dieses
Element zum Kern des heutigen Gesichtes von Kufr: dem Kapitalismus. Aus diesem Grund ist
dies die wichtigste politische Frage, der sich die muslimischen Nationen unserer Tage
gegenüber sehen. Sie beeinflusst jeden Aspekt unseres Lebens.
Trotz ihrer Wichtigkeit bleibt das Verständnis der meisten Muslime darüber zumeist
oberflächlich. Die meisten Leute verstehen Riba als bloße Zinsen. Die Wirklichkeit davon
aber ist eine viel komplexere Angelegenheit. Dieses Missverständnis ist nicht nur ein
Irrtum, sondern das Ergebnis einer falschen Ausbildung und einer Indoktrination, die sich
aus zwei Quellen gespeist hatte: der Zerstörung einer existierenden politischen Ordnung
und dem Prozess der so genannten islamischen Reform, der ihr folgte. Dieses
Missverständnis eröffnete die Tore für die Islamisierung der wichtigsten
kapitalistischen Einrichtung: der Bank. Was der offene Marktplatz für den Handel ist, ist
die Bank für Riba.
Eine reformierte Riba erlaubte den neuen Förderern der islamischen Bank
ihre Handlungsweise zu rechtfertigen. Aus diesem Grund ist es notwendig, zu einem
korrekten Verständnis im Fiqh [dem islamischen Recht] dieses Kernbegriffes
zurückzukehren, was uns wiederum die Unterscheidung zwischen Halal und Haram erlaubt.
Diese kurze Einleitung versucht, so einfach wie möglich der Frage nach dem Wucher im
Islamischen Recht nachzugehen und die Missverständnisse die von den Reformern
und modernistischen Gelehrten erzeugt worden sind, zu beheben.
Riba bedeutet wörtlich verstanden im Arabischen Exzess oder Überschuss.
Qadi Abu Bakr ibn Al-Arabi definiert sie in seinem Ahkam Al-Quran
[einem der Standardwerke über die aus Quran abzuleitenden Rechtsurteile] wie folgt:
Jeder Überschuss zwischen dem Wert der gegebenen Güter und ihrem Gegenwert (dem
Wert der empfangenen Güter).
Dieser Überschuss verweist auf zwei Punkte: 1.) ein zusätzlicher Nutzen, der aus einem
ungerechtfertigten Anstieg in Gewicht und Maß erwächst und 2.) ein zusätzlicher Nutzen,
der aus einer ungerechtfertigten Verzögerung einer Transaktion erwächst.
Die beiden Aspekte haben unsere Gelehrten dazu geführt, zwei Arten von Riba zu bestimmen.
Ibn Ruschd sagte: Die Juristen haben sich ebmütig über Riba im Buju (Handel)
geeinigt. Dieser besteht aus zwei Arten: Verzögerung (Nasiah) und festgelegter
Überschuss (Tafadul). Daraus folgt, dass es zwei Arten von Riba gibt:
Riba Al-Fadl (Überschuss des Mehrwertes); bezieht sich auf Mengen Riba
An-Nasiah (Überschuss in der Verzögerung); bezieht sich auf zeitliche
Verzögerungen Riba Al-Fadl ist sehr einfach zu verstehen. Bei einem Kredit ist Riba
Al-Fadl der Zinssatz, der erhoben wird. Allgemein bedeutet er das Verlangen einer Partei
nach einem zusätzlichen Anwachsen des zu erhaltenen Gegenwerts. Eine Seite gibt im
Austausch für etwas, was einen Wert von 110 hat, etwas, das einen Wert von 100 besitzt.
Dies ist auch der verbotene Fall, bei dem zwei Verkäufe durch einen einzigen Vertrag
verbunden werden (bekannt als zwei Transaktionen in einer), bei dem eine
Partei verpflichtet wird, etwas zu einem Preis zu kaufen und es nach Ablauf einer gewissen
Zeit dem eigentlichen Verkäufer zu einem geringeren Preis zurückzuverkaufen.
Tatsächlich ist dies nur ein Mittel, um unter dem Vorwand eines Verkaufes einen Kredit
mit Zinsen zu tarnen. Niemand braucht heute diese Maskerade mehr, denn man erhält diesen
Kredit direkt bei einer Bank. Aber die islamischen Banken haben auf diesen
alten Trick zurückgegriffen, um ihre Kunden mit dem fehlgedeuteten Namen Murabaha
zu täuschen.
Das Verständnis von Riba An-Nasiah ist komplexer. Dabei handelt es sich um einen
Überschuss an Zeit (Verzögerung), der dem Austausch hinzugefügt wird. Dieser bezieht
sich auf den Besitz (Ain) und den Nichtbesitz (Dain) des Zahlungsmittels (Gold,
Silber und Lebensmittel, die als Geld benutzt wurden). Ain ist eine fassbare Ware,
häufig auch als Bargeld [im Sinne von in sich werthaltigen Gütern] bezeichnet. Dain ist
ein Zahlungsversprechen, eine Schuld oder alles, dessen Lieferung oder Auszahlung
verzögert wurde. Der Austausch (Safr) von Dain für Ain bei der gleichen Ware wird
als Riba An-Nasiah bezeichnet. Der Austausch Dain für Dain ist ebenso verboten. In
einem Verkauf ist es nur erlaubt, Ain für Ain zu tauschen.
Dieses Verbot wird durch viele Überlieferungen zu dem Thema unterstützt. Imam Malik
überlieferte, dass er Al-Qasim ibn Muhammad sagen hörte: Umar ibn Al-Khattab
sagte: Einen Dinar für einen Dinar und einen Dirham für einen Dirham und ein Sa
[muslimisches Maß] für ein Sa. Was später eingesammelt werden soll, kann
nicht für etwas Anwesendes verkauft werden.
Der hanafitische Gelehrte Abu Bakr Al-Kasani (d.h. 587 n.H.) schrieb: Was Riba
An-Nasa betrifft, so ist dies der Unterschied (Exzess) zwischen der Beendigung der
Verzögerung und der Zeit der Verzögerung und der Unterschied (Exzess) zwischen dem
Besitz (Ain) und Nichtbesitz in jenen Dingen, die gemessen und gewogen werden
können. Dies betrifft sowohl Dinge gleicher Art, wie auch unterschiedlicher Art.
Riba An-Nasiah bezieht sich insbesondere auf den Gebrauch von Dain in einem
Austausch (Sarf) der gleichen Art. Aber das Verbot dehnt sich auf Verkäufe im Allgemeinen
aus, wenn das Dain, welches für Geld steht, seine private Natur verliert und das Ain
als allgemeines Zahlungsmittel ersetzt.
Quelle: Islamische Zeitung
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