Rechtsschulen und die Notwendigkeit

von Denkregeln im Islam

 

Wenn wir fragen, was die Grundlagen für das eigene Handeln im Islam liefert, so wird jeder Muslim im Regelfall „Qur’an und Sunna“ antworten. Wenn allerdings weiter gefragt wird, wie wir einen authentischen Zugang zum Wissen über den Qur’an und die Sunna erhalten können, so unterscheiden sich die gegebenen Antworten zum Teil sehr stark. Die einen werden sagen, man solle seinem eigenen Verständnis nach die qur’anischen Verse deuten, einige machen geltend, dass es das überlieferte Wissen der ersten Generationen gibt und schließlich sind andere der Ansicht, dass nur die reinen Texte - das heißt die qur’anische Offenbarung und die aufgezeichneten Überlieferungen des Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben - in ihrem reinen Wortlaut als Handlungsgrundlage gelten können. Für die übergroße Mehrheit aller Muslime stellt sich diese Frage zumeist nicht, da sie entweder - wenn sie in einer muslimischen Familie geboren wurden - die Rechtstraditionen ihrer Umwelt übernehmen oder aber - wenn sie später den Islam annehmen - der Rechtsschule derjenigen folgen, mit denen sie Muslime geworden sind.

 

Unsere Situation stellt uns allerdings vor die Nowendigkeit der Reflektion und dem Fragen nach den unterschiedlichen Verständnissen, wollen wir in unserer Zeit die Möglichkeit erhalten, den Islam praktizieren zu können. Die heute exiszierenden islamischen Rechtsschulen sind der Schlüsselpunkt, an wir ansetzen müssen, um zum prophetischen Vorbild Medinas zu gelangen. Anders als häufig verstanden, bestehen diese nicht in geografischen Anordnungen oder spezifischen Loyalitäten zu den unterschiedlichen Lehrern - die von allen respektiert werden, sondern vertreten die unterschiedlichen Methoden und Denkwege, die diese Lehrer anwendeten. Damit die anhaltende gefährliche Reduktionen des Islam auf politischen Extremismus einerseits und auf private Esoterik andererseits vermieden werden kann, ist das Nachdenken über diese Frage mehr als nur eine akademische Beschäftigung.

 

Die Rechtsschule von Imam Abu Hanifa

Imam Abu Hanifa lebte nicht in Medina, dem Ausgangspunkt des Dins, sondern im irakischen Kufa. Die Provinz war damals nur von wenigen der Prophetengefährten, darunter allerdings der hoch angesehene ‘Ali, Schwiegersohn des Propheten, und ‘Abdullah ibn Mas’ud, bewohnt. Dieser Umstand hatte zur Folge, dass die irakischen Gelehrten für ihre Arbeit nur einen begrenzten Zugang zu den prophetischen Überlieferungen (Ahadith) hatten. Da sie im Irak häufig vor der Aufgabe standen, Lösung für bisher - der ersten Generation - unbekannte Probleme zu finden, mussten sie eine Methodenlehre entwickeln, mit deren Hilfe sie einen authentischen Zugang zum Qur’an und der prophetischen Sunna finden könnten. Durch die, im Vergleich zu Medina, wesentlich geringe Anzahl an Prophetengefährten hatten die Rechtsgelehrten wesentlich weniger prophetisches „Material“, mit sie arbeiten konnten. Außerdem war der Irak - schon damals - ein Ort, an dem sie die unterschiedlichen, teilweise irrwitzigsten, Sekten entwickelten und einander bekämpften. Dies fand in einer Zeit statt, in der die Wissenschaft von der Berichten, die sich auf den Propheten beriefen, noch in den Kinderschuhen steckte. Die Sekten nutzten dies aus, indem sie zur Bestätigung ihrer eigenen Ansichten eigene Ahadith fertigten, was den islamischen Gelehrten den Zugang zu den Überlieferungen erschwerte.

 

Im Irak fanden die muslimischen Gelehrten einen Weg, der den beschränkten Möglichkeiten des Ortes angemessen war und die allgemein als „Schule des Ra’i“ bekannt wurde. „Ra’i“ bedeutet in diesem Fall Meinung, aber auch eine rechtliche Entscheidung, die auf der Anwendung des Verstandes und der persönlichen Meinung gefällt wird2, wenn sich kein direkter Bezug aus dem Qur’an, der Sunna und der Analogie (Qiyas) finden lässt. Damit umgangen die irakischen ‘Ulama das Dilemma, dass wegen der geringen Zahl an Personen, die direkt vom Gesandten Allahs überliefern konnten, der Zugang zu diesen Berichten nur begrenzt war. Diese Methode wurde in ihrer höchsten Möglichkeit von Imam Abu Hanifa verkörpert. Bei genauerer Betrachtung wird man feststellen, dass es in der Geschichte nur wenige gab, die einen derartigen Intellekt wie Abu Hanifa hatten.

 

Medina und Imam Malik

Im Vergleich zum Denken von Imam Abu Hanifa beruht die Schule von Imam Malik auf einer vollkommen anderen Methode, zu rechtlichen Entscheidungen zu gelangen. Er lebte in Medina, der Stadt in der der Prophet lebte und die meisten qur’anischen Verhaltensregeln des Islam offenbart worden waren, die der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden, und seine Gemeinschaft dann durch ihr Verhalten umsetzten. Der zweite Khalif, ‘Umar ibn Al-Khattab, hat die noch lebenden Gefährten des Propheten angewiesen, in der Stadt zu bleiben, damit dadurch das in ihnen versammelte Wissen erhalten bleiben konnte. Das Wissen war geschützt und keine degenerative Erneuerung konnte in den ersten drei Generation, der Gefährten (Sahaba), der Nachfolger (Tabi’un) und deren Nachfolger, eindringen. Was Imam Malik erhielt und was er an seine Schüler weitergab, darunter seine bekannteste Arbeit, die Muwatta’, war nichts anderes als der Islam selber, der ihm von diesen drei Generationen in der erleuchteten Stadt überliefert worden war. Auf die medinensische Art und Weise der Überlieferung anspielend, sagte im sein Lehrer Rabi’a: „Tausend, die von tausend nehmen, sind besser als einer, der von einem nimmt, denn dies wird den Din direkt aus euren Händen reißen.“ Die Methode von Imam Malik war, das Bestehende, was zu ihm unberührt aus der Zeit des Propheten kam, aufzunehmen und weiterzugeben.

 

Imam Schafi’i und die Bedeutung von Texten

Die dritte Methode, die sich als Zugang zum Qur’an und der prophetischen Sunna entwickelte, war die von Imam Asch-Schafi’i. Er wurde in Mekka geboren, wo er den Qur’an studierte und dann nach Medina ging. Dort saß er als junger Schüler von Imam Al-Malik und lernte dessen Muwatta’ auswendig. Danach ging er in den Irak, wo er bei Schülern von Imam Abu Hanifa, insbesondere Muhammad Schaibani, lernte. Nach der Beendigung seiner Ausbildung bereiste er den Jemen und verstarb schließlich in ‘Ägypten. Was unterscheidet sein Rechtsdenken von dem der beiden anderen Imame?

 

Imam Schafi’i war der Ansicht, dass an den jeweiligen Orten unterschiedliche Meinungen und Ansichten vorherrschend waren. Seinem Verständnis nach bestand die Gefahr, dass sich der Islam an den einzelnen Orten wesentlich unterschiedlich entwickeln könnte. So schuf er ein erstauntliches und brilliantes System, welches eine weitere Aufspaltung des Wissens vom Qur’an und der Sunna verhindern sollte. Dieses System bestand in einer Methode der Untersuchung von Texten, das heißt von Verses des Qur’an und Ahadith des Propheten, um die Auflösung des Din zu verhindern. Er entwickelte eine Methode, wie die Handlung (‘Amal) ausschließlich durch den Text (Buch und Sunna in seinem Verständnis) zu begründen sind.

 

Diese Methode lässt sich durch folgendes Beispiel illustrieren: Es heißt im Qur’an in einigen Versen, dass die Berührung von Frauen eine rituelle Reinigung notwendig macht. Während die Lehrer, die der Schule von Medina oder dem Irak folgen, der Ansicht sind, dass dieses „Berühren“ eine sexuelle Konnotation haben muss, um eine Reinigung notwendig zu machen, verstand Imam Schafi’i dies als wörtliche Aussage. Demnach zieht jede Berührung einer Frau, auch die zufällige, die Verpflichtung zur rituellen Reinigung nach sich. Das heißt, dass das Wort beziehungsweise der Text als Grundlage einer Handlung verstanden wird und nicht die überlieferte Handlung oder deren Bedeutung. Es gibt keinen Zweifel, dass die Muslime diesem außerordentlichen System von Imam Schafi’i die Weitergabe des Islam bis in unsere Zeit hinein verdanken. Diese Methodenlehre ist von den Gelehrten der anderen Rechtsschulen angewandt und übernommen worden. So folgten die großen Hadith-Gelehrten, die die Wissenschaft von den prophetischen Überlieferungen lehrten, wie beispielsweise Imam Bukhari, Abu Dawud, Imam Muslim und Imam Baihaqi der Rechtsschule von Imam Schafi’i, da diese eine möglichst genaue Textsicherheit ermöglichte.

 

Dies sind die drei Methoden, wie Muslime zum Verständnis vom Qur’an und der Sunna gelangten. Es gibt noch die Rechtsschule, die auf den berühmten Hadithgelehrten Ahmad ibn Hanbal in Bagdad zurückgeht. Allerdings hat dieser keinen eigenständigen Zugang zu einer Methode entwickelt. Ahmad ibn Hanbal sammelte eine unglaublich große Menge von Aussagen, nicht nur vom Propheten, sondern auch von seinen Gefährten und von jedem aus den frühen Tagen, der Wissen über den Islam hatte. Dies fasste er in seinem großen Werk „Musnad“ zusammen. Daraus schuf er ein Bild, welches seiner Ansicht nach zeigen sollte, wie es zu Zeiten der ersten Gemeinschaft in Medina war. Allerdings hatte er keine eigene Methode, wie die drei anderen Rechtsschulen.

 

Wie sieht es heute aus?

Heutzutage haben die Rechtsschulen zu weiten Teilen nichts mehr mit unterschiedlichen Methoden zur Urteilsfindung zu tun, sondern mit dem Ort, an dem man geboren wurde. Wer in der Türkei oder auf dem Subkontinent geboren wird, ist im allgemeinen Verständnis automatisch Hanafi und wer in Südostasien oder in Ägypten zur Welt gekommen ist, wird als Muslim in der Tradition der schafi’itischen Rechtsschule erzogen. Die Frage nach den islamischen Recht, und welchem Lehrer zu folgen ist, wurde auf die Geografie reduziert. Tatsächlich handelt die Mehrheit der einfachen Muslime nach der Methodenlehre von Imam Malik, da sie dem folgen, was ihnen von den früheren Generationen überliefert worden ist. Damit ist nicht gemeint, dass sie dem Recht, wie es in Medina üblich war, folgen, sondern der Methode, wie Imam Malik und seine Zeitgenossen in Medina zu ihren Urteilen gekommen sind. Die Mehrheit der heutigen islamischen Rechtsgelehrten folgt in ihrer Denkmethode Imam Schafi’i, da sie ihr gesamtes Wissen aus Büchern, also aus Texten beziehen.

 

Heutzutage sind wir Muslime mit der verzerrten Anwendung aller drei Methoden konfrontiert, die zu drei unterschiedlichen Verfallserscheinungen in der muslimischen Welt geführt haben. So hat die fehlerhafte Anwendung der Methode von Imam Abu Hanifa eine der Grundlagen für den Modernismus geliefert. Als Beispiel hierfür mag des Fatwa von Muhammad ‘Abduh gelten, der in Ägypten an der Wende zum 20. Jahrhunderts die Zinsnahme für erlaubt erklärt hatte. Sein Gedankengang war, dass das Verhalten der Nichtmuslime (hier die Zinsnahme) dann gestattet sei, wenn es den Muslimen einen Vorteil vor den Nichtmuslimen verschaffen könne. Er wendete die Methode von Imam Abu Hanifa falsch an, da es ihm entweder an Wissen oder an Taqwa [dem Verhalten, welches durch die Furcht vor dem Schöpfer geprägt ist] fehlte. Damit wird die von Imam Abu Hanifa gezwungenermaßen angewendete Methode des Ra’i pervertiert. Dieses Phänomen findet sich nicht selten in Situationen, in denen Muslime als Minderheit in einer Gesellschaft leben und sich die Frage stellen, wie sie ihre islamischen Grundlagen den Gegebenheiten anpassen können.

 

Was passiert, wenn die textuelle Methodik von Imam Schafi’i falsch angewendet wird, lässt sich aus dem Phänomen ableiten, welches unter anderem unter dem Namen „Salifija“ bekannt worden ist. Diese Denkrichtung will ihre Handlungen ausschließlich aus dem Text ziehen, ohne den Kontext dieser Texte - seien es Verse aus dem Qur’an oder prophetische Überlieferungen - zu haben. Damit kommt es zu Neuerungen und Fehldeutungen im Islam, weil eine Methodik anwendet wird, für die sie nicht die notwendige Ausbildung besitzen. Beispielsweise findet sich dieses Denken bei der direkten Übertragung von Hadithen, ohne deren historischen Ursachen (Asbab) zu kennen oder der Unkenntnis darüber, ob es nicht weitere prophetische Aussagen gibt, die einem bestimmten Hadith widersprechen, es qualifizieren und einordnen. So machen Muslime, die nach der Rechtsschule von Imam Malik beten und dabei die Arme an der Seite hängen lassen (Sadl), nicht selten in Europa die Erfahrung, dass junge Studenten erregt auf sie zukommen und darauf hinweisen, dass sie falsch beten würden und die Arme vor dem Körper (Qabd) verschränken sollten, wie dies bei anderen Rechtsschulen üblich ist. Als Begründung führen sie dann Texte an, die diese Art des Betens belegen. Da sie nicht die Hintergründe kennen, vergessen sie, dass diese Handlung (‘Amal) über Generationen seit dem Propheten bei den Leuten von Medina üblich war und von Imam Malik an seine Schüler weitergegeben wurde, die diesen ‘Amal in die Regionen brachten, in denen die Schule Imam Maliks die vorherrschende war (Ägypten, Nord- und Westafrika, Andalusien, sowie Teile des Arabischen Golfs).

 

Schließlich gibt es einen Missbrauch der von Imam Malik verwendeten Methodologie, wenn Muslime eine Handlung nachahmen, die nicht Teil des Dins ist, von der sie aber gehört haben oder dem Beispiels einen anderen folgen. Bei Migranten in Westeuropa begegnet man beispielsweise kulturell tradierten Verhaltensweisen, die sich aber nicht auf eine islamische Quelle oder ein überliefertes und anerkanntes Verhalten zurückverfolgen lassen.

 

Ausblick

Der Ausschlag gebende Punkt hier ist, dass die Methodologie der Schule von Imam Schafi’i wegen ihrem Festhalten an den textuellen Quellen den Islam in den letzten tausend Jahren bewahrt hat und ich hoffe, dass Allah Imam Schafi’i für seine Arbeit belohnen wird. Aufgabe war, den bestehenden Din zu bewahren, was zur Voraussetzung hatte, dass der Din als praktizierte Wirklichkeit Bestand hatte. Heute leben Muslime allerdings in einer Welt, in der Din als Lebenswirklichkeit - vor allem der gesamte sozio-ökonomische Komplex - aus ihrem Alltag verschwunden ist. Wenn man nun versucht, diese Methode zur Bewahrung des Din anzuwenden, wenn es keine etablierte islamische Lebensweise gibt, dann hat dieser Weg das Gegenteil seines eigentlich gewünschten Ergebnis zur Folge, denn er wird verhindern, dass die muslimische Lebensführung umgesetzt werden kann, da er auf Bewahrung ausgerichtet ist. Bereits in der Vergangenheit haben herausragende islamische Gelehrte, wie der indische Gelehrte Schah Wali’ullah in Situationen, in denen diese Lebenspraxis durch äußere Einwirkungen oder durch innere Verfallenheit gefährdet war, die Muslime daran erinnert, wieder an die Quelle zurückzukehren.

 

Quelle: http://www.abubakrrieger.de/

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