Das Leben nach dem Tode

Sayyid Abu Ala Maududi


Informationszentrale Dâr-us-Salâm 1998

3. Auflage
Das Urheberecht liegt beim Autor.
Hrsg.: Informationszentrale Dâr-us-Salâm
Mit freundlicher Genehmigung der UMSO
Redaktion: Tilmann Schaible

ISBN 3-932129-68-7

Dieser Vortrag erschien im April 1970 als Nr. 2 der "Vortragsserie über den Islam" der UMSO



Bismillah

DAS LEBEN NACH DEM TODE


Die Frage, ob es ein Leben nach dem Tode gibt und wie gegebenenfalls dieses Leben aussehen würde, liegt außerhalb des menschlichen Wissensbereichs. Wir haben weder Augen, mit denen wir erkennen können, was jenseits der geheimnisvollen Grenzen des Todes vorgeht, noch Ohren, die fähig sind eine Botschaft von dort aufzunehmen. Bis jetzt ist noch kein wissenschaftliches Instrument erfunden worden, das uns bei Forschungen auf diesem Gebiet helfen könnte. Diese Frage liegt daher, vom Standpunkt der Wissenschaft aus gesehen, nicht in deren Bereich und jene, die aus wissenschaftlichen Gründen die Existenz eines Lebens nach dem Tode verneinen, geben damit lediglich eine unwissenschaftliche Erklärung ab. Tatsächlich ist nämlich die einzige wissenschaftlich vertretbare Stellungnahme die, die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tode weder zu bestätigen noch zu bestreiten. Doch da wir uns einmal der rauhen Wirklichkeit des Lebens gegenübergestellt sehen - können wir da stets und für alle Zeiten an dieser Stellungnahme festhalten? Wahrscheinlich nicht; oder um noch genauer zu sein: ganz bestimmt nicht. Natürlich ist theoretisch gesehen die einzig richtige Handlungsweise die, eine Behauptung, deren Richtigkeit mit den vorhandenen Mitteln der Wissenschaft nicht bestätigt werden kann, weder anzuerkennen noch abzulehnen. Doch da diese Frage unser Alltagsleben in ganz entscheidender Weise unmittelbar betrifft, wird es unerlässlich für uns, unser Verhalten entweder der einen oder der anderen Anschauung anzupassen. Wir können einfach nicht neutral bleiben.

Nehmen wir einmal den Fall eines Menschen, den wir nicht persönlich kennen und mit dem wir auch nie zuvor zu tun hatten. Theoretisch gesehen wäre es falsch, wenn wir uns irgendeine Meinung für oder gegen ihn bilden würden. Doch wenn es zur praktischen Notwendigkeit für uns wird, mit ihm zu verkehren, dann müssen wir entweder von der Voraussetzung ausgehen, dass er ein ehrlicher Mensch ist, oder dass er unehrlich ist. Natürlich können wir sagen: Wir werden uns ein Urteil über ihn noch vorbehalten und sehr vorsichtig sein in unserem Umgang mit ihm, bis wir eindeutige Beweise in der einen oder anderen Hinsicht über ihn in Händen haben. Doch welchen Verkehr wir in diesem Stadium des vorbehaltenen Urteils auch immer mit ihm haben mögen, es wird praktisch gesehen ähnlich sein, als hätten wir ihn tatsächlich als unehrlich beurteilt. Das bedeutet, dass ein Stadium von Unentschlossenheit und Aufschiebung des endgültigen Urteils etwas ist, auf dessen Basis das praktische Leben nicht seinen Fortgang nehmen kann. Es muss entweder auf der Grundlage von eindeutiger Bejahung oder Verneinung weiterlaufen.

Ein wenig Nachdenken wird uns gleichermaßen die Tatsache vor Augen führen, dass die Frage des Lebens nach dem Tode nicht nur eine rein philosophische Frage ist. Vielmehr hat sie einen ganz entscheidenden Einfluss auf das praktische menschliche Verhalten. In der Tat ist sie die wirkliche Grundlage unserer ganzen sittlichen Verhaltensweise. Wenn irgend jemand so gut wie überzeugt ist, dass das Leben in dieser Welt das einzige Leben ist und dass es nichts wie ein Leben im Jenseits gibt, so wird sein sittliches Verhalten von dieser Überzeugung auf ganz bestimmte Weise beeinflusst. Wenn er jedoch andererseits an die Wiederauferstehung und an ein Leben nach dem Tode glaubt, in dem er dazu aufgefordert werden wird, Rechenschaft über alles abzulegen, was er in dieser Welt getan hat, und wenn er glaubt, dass sein Erfolg und sein Wohlergehen in jener Phase des Daseins in ganz großem Umfang von seinem Verhalten während seines Erdenlebens abhängen wird, so wird sein sittliches Verhalten sicherlich von ganz anderer Prägung sein.

Wir wollen einmal den Fall eines Menschen betrachten, der in das Land XY reist und meint, dass XY das Ende seiner Fahrt ist und dass, sobald er XY erreicht hat, damit nicht nur seine Reise ein Ende nehmen wird, sondern dass er damit auch die Grenzen jeglicher richterlicher und polizeilicher Gewalt hinter sich gelassen haben wird; tatsächlich wird es keine Autorität mehr geben, die irgendeine Art von Gerichtsbarkeit ihm gegenüber ausüben könnte. Auf der anderen Seite ist ein Mensch, der XY nicht als den Bestimmungsort seiner Reise betrachtet, sondern als eine reine Zwischenstation auf seinem Weg in ein Land jenseits des Ozeans, das von dem gleichen Herrscher regiert wird, der derzeit gerade über ihn herrscht. Er glaubt, dass der Herrscher geheime Aufzeichnungen über sein Tun und Lassen im Lande besitzt und ihn, entsprechend diesen Aufzeichnungen, belohnen oder bestrafen wird. Den Unterschied zwischen der Weltanschauung und dem Benehmen dieser beiden Menschen kann man sich sehr gut vorstellen. Der eine wird sich nur für die Fahrt bis nach XY ausrüsten, während der andere den tatsächlichen Bestimmungsort im Auge behalten und sich dementsprechend für eine lange Reise nach Übersee ausstatten wird. Der eine wird sich nur um seine Sicherheit bis XY kümmern, während der andere sich weit mehr Gedanken über sein Wohlergehen im Reich jenseits des Ozeans machen wird. Der eine wird nur das Nächstliegende beachten, während der andere die Dinge auf lange Sicht betrachten wird. Und dieser Unterschied in der Auffassung wird die Folge der verschiedenen Ansichten über Sinn und Zweck ihrer Reise sein.

In ähnlicher Weise hat der Glaube an das Leben nach dem Tode einen ganz entscheidenden Einfluss auf unser sittliches Verhalten. Jeder Schritt, den wir im praktischen Leben machen, wird - was die Richtung betrifft - entsprechend von unserem Glauben oder Nicht-Glauben an das Leben im Jenseits bestimmt - ob wir nämlich dieses Leben als den Anfang und das Ende unseres Daseins betrachten oder ob wir noch eine andere Daseinsform erwarten. Ersteres führt uns in eine Richtung, letzteres in die entgegengesetzte.

Darum ist die Frage des Lebens nach dem Tode nicht lediglich rein akademischer Natur, sondern sie betrifft unser praktisches Alltagsleben. Und da dies so ist, können wir uns vernünftigerweise nicht mit einer zweifelnden und zögernden Einstellung zufrieden geben. Denn welche Haltung wir auf dieser schwankenden Grundlage im praktischen Leben auch immer einnehmen mögen - sie wird nicht wirklich verschieden von der sein, die sich aus offenem Unglauben an ein künftiges Dasein ergibt.

Eine klare Entscheidung in dieser wichtigen Frage zwingt sich uns daher geradezu auf. Wenn uns die Naturwissenschaften bei der Bestätigung der Wahrheit in dieser Angelegenheit nicht helfen können, dann sollten wir durch logisches Nachdenken Hilfe suchen. Wir wollen daher einmal prüfen, was uns zu diesem Zweck an Anhaltspunkten zur Verfügung steht: Da haben wir einerseits den Menschen selbst, seine Persönlichkeit und seine sittlichen Bestrebungen; und auf der anderen Seite haben wir das unendlich große Universum. Wir sollten einmal überlegen, ob das Universum, und alles, was darin enthalten ist, die Bedürfnisse der menschlichen Persönlichkeit materiell sowohl als auch ideell erfüllt, oder ob einige ihrer Ansprüche unbefriedigt bleiben und deshalb zur Erfüllung eines anderen Lebens jenseits des gegenwärtigen bedürfen.

Jeder Mensch besitzt einen Körper, der aus verschiedenen Mineralien, Salzen, Gasen und Wasser zusammengesetzt ist. Als solcher verbindet ihn eine enge Verwandtschaft mit der physikalischen Welt, denn diese enthält ebenfalls Mineralien, Metalle, Salze, Gase und Flüssigkeiten. Nun gibt es eine Reihe von natürlichen Gesetzen, die die Geschicke der verschiedenen Bestandteile der physikalischen Welt beherrschen und lenken. Der menschliche Körper enthält, da er ein Teilchen desselben Alls ist, seine anteilsmäßige Unterstützung durch diese Gesetze und damit vollkommenste Gelegenheit, im Ausmaß seiner Fähigkeiten zu funktionieren und sich zu entwickeln.

Doch ist der menschliche Körper nicht nur ein Körper. Er ist auch ein Organismus, der fähig ist zu wachsen und der Nahrung von außen braucht. Auch in dieser Beziehung ist er wesensverwandt mit der physikalischen Welt, mit ihren organischen Bestandteilen wie Blättern und Pflanzen, und seine Bedürfnisse werden in vollstem Umfang durch die Gesetze erfüllt, die die Welt als Ganzes durchdringen.

Weiterhin ist der menschliche Organismus ein lebendiger Organismus. Er bewegt sich aus freiem Willen, verschafft sich durch eigene Kraft Nahrung, verteidigt sich gegen feindliche Mächte und zeugt Nachkommen, um seine Rasse am Leben zu erhalten. Auch hier weist die physikalische Welt nicht nur eine klare Verwandtschaft mit ihm in Form einer Vielzahl lebendiger Organismen auf, welche Land, Wasser und Luft bewohnen, sondern auch in den Gesetzen, die das Leben und das Wachstum der lebendigen Organismen sicherstellen.

Doch von all diesen Eigenschaften der menschlichen Persönlichkeit abgesehen gibt es noch eine weitere - nämlich die, dass der Mensch ein moralisches Wesen, ein Geschöpf mit moralischem Bewusstsein ist. Er besitzt das Wahrnehmungsvermögen für moralisch Gutes und Schlechtes und die Fähigkeit, tugendhaft oder lasterhaft zu sein. Sein Wesen verlangt danach, dass gutes Benehmen günstige Ergebnisse hervorbringe, während schlechtes Betragen zu Unglück und Verderben führen müsse, und er bemüht sich, zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Falschheit, Gut und Böse, Freundlichkeit und Grausamkeit, Dankbarkeit und Undankbarkeit, Großzügigkeit und Geiz, Vertragstreue und Vertragsbruch und so weiter zu unterscheiden. Diese verschiedenen sittlichen Eigenschaften lassen sich in seinem eigenen Leben finden. Sie sind daher für ihn etwas Wirkliches und nicht reine Phantastereien. Sie haben tatsächlich einen wesentlichen Einfluss auf den gesamten Bereich der menschlichen Zivilisation selbst. Die menschliche Natur verlangt daher, dass moralische Folgen harmonisch mit moralischen Taten übereinstimmen, auf gleiche Weise wie physikalische Ergebnisse mit ihren physikalischen Ursachen.

Nun ergibt sich eine sehr wichtige Frage: Ist unsere Welt wirklich so eingerichtet, dass sie die Erfüllung dieser Forderung zulässt?

Die einzig mögliche Antwort ist ein ganz entschiedenes Nein. Denn innerhalb des gesamten menschlichen Wissensbereichs ist uns nichts vom Vorhandensein irgendeines Geschöpfes außer dem Menschen bekannt, das auch nur die entfernteste Ähnlichkeit mit dem besitzt, was wir als moralische Persönlichkeit bezeichnen. Es sind allein die physikalischen Gesetze, und nicht die moralischen Gesetze, die hier um sich greifen, Dies entspricht den Eigenschaften und der Zusammensetzung unserer physikalischen Welt. Hier hat das Pfund ein bestimmtes Gewicht und folglich auch einen bestimmten Wert, während Wahrhaftigkeit weder Gewicht noch Wert besitzt. Hier bringt ein Kirschkern stets einen Kirschbaum hervor, doch der, der die Saat der Gerechtigkeit aussät, kann niemals das Ergebnis voraussehen. Möglicherweise wird er mit Rosen überschüttet, doch viel öfter als dies wird ein Steinregen auf ihn niederprasseln. Hier werden einerseits physikalische Vorgänge von festgelegten Gesetzen bestimmt und bringen voraussehbare Ergebnisse hervor, während andererseits moralische Wahrheiten keinerlei derartige unveränderlich feststehende Faktoren in Bezug auf ihre Folgen besitzen. Manchmal erweisen sich moralische Taten als vollkommen fruchtlos, weil sie durch physikalische Gesetze ungünstig beeinflusst werden. Bei anderer Gelegenheit wirken sich moralische Folgen zwar aus, doch nur in dem Maße, wie es die physikalischen Gesetze zulassen. Oft kommt es auch vor, dass allein aufgrund des Eingreifens der physikalischen Gesetze die Ergebnisse einer moralischen Tat genau das Gegenteil dessen bewirken, was erreicht werden sollte. Zweifellos hat der Mensch teilweise versucht, durch seine gesellschaftlichen und politischen Institutionen die erwünschten Folgen menschlichen Handelns zu gewährleisten. Doch diese Versuche sind aufgrund ihres ureigensten Wesens beschränkt und fehlerhaft, denn sie werden von den physikalischen Gesetzen einerseits und von den menschlichen Schwächen andererseits hintertrieben.

Ich möchte diesen Punkt durch einige Beispiele erläutern: Nehmen wir an, A steckt das Haus von B an. Es brennt bis auf die Grundmauern nieder. Dies ist das physikalische Ergebnis der Tat von A. Die moralische Folge eines solchen Verbrechens sollte sein, dass A eine Strafe erhält, die dem Verlust und Schaden voll entspricht, der der ganzen Familie von B zugefügt wurde. Es ist nun unbedingte Voraussetzung, dass der Verbrecher ermittelt und die Schuld festgestellt wird, dass das Gericht eine genaue Aufstellung über den Verlust und Schaden macht, der B's Familie zugefügt wurde, und volle Gerechtigkeit walten lässt. Wenn irgendeine dieser Voraussetzungen nicht erfüllt wird, so werden die moralischen Folgen der Schuld entweder ganz oder teilweise ihre Wirksamkeit einbüßen. Es kann sogar tatsächlich vorkommen, dass der Verbrecher in Glück und Freuden lebt, nachdem er die unschuldige Familie ins Unglück gestürzt hat.

Wir wollen nun ein anderes Beispiel von noch weiter tragender Bedeutung betrachten: Auf irgendeine Weise gelingt es einigen wenigen Männern, das Vertrauen ihrer Landsleute zu gewinnen, so dass diese beschließen, sich deren Führung anzuvertrauen. Indem sie sich ihren politischen Einfluss zunutze machen, begeistern diese Führer ihre Anhänger sodann für die Ideen des Nationalismus und erwecken in ihnen das Verlangen nach territorialen Eroberungen. Schließlich erklären sie dem Nachbarland den Krieg, verwüsten es von einem Ende bis zum anderen, peinigen, quälen und vertreiben Tausende von Einwohnern und versklaven Millionen auf unwürdigste Weise. Diese verderbte Handlungsweise übt einen unauslöschlichen Einfluss auf den ganzen weiteren Verlauf der menschlichen Geschichte aus. Die Folgen erstrecken sich auf die Nachwelt und bestimmen unvermeidbar das Schicksal von zahllosen Generationen. Ist es möglich, dass diese Männer, die sich eines Verbrechens von solch ungeheuerlich großen Ausmaßen schuldig gemacht haben, auf Erden jemals gerecht und angemessen bestraft werden können? Es liegt klar auf der Hand, dass auch dann, wenn diesen Leuten bei lebendigem Leib die Haut abgezogen wird, wenn sie in Stücke geschnitten, zu Asche verbrannt oder auf irgendeine andere grausame Weise, die den Menschen zu Gebote steht, bestraft werden, diese Bestrafung in keiner Weise den Schrecken der Ausplünderung und Zerstörung angemessen ist, die Millionen von Menschen und deren Nachkommen zugefügt wurden. Das bedeutet, dass diese Männer unter den physikalischen Gesetzen, die unsere gegenwärtige Welt regieren, niemals die Strafe erhalten können, die sie verdienen.

Gleichermaßen können wir auch den Fall jener großen religiösen Führer betrachten, die die Menschheit mit ihren Lehren voll Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit beschenkten und deren segensreicher Einfluss sich für die Menschen jahrhunderte- und jahrtausendelang als Licht in der Finsternis ausgewirkt hat und es auch künftig weiterhin tun wird. Ist es möglich, dass jene Männer in dieser Welt für ihre unschätzbaren Verdienste um die Menschheit angemessen belohnt werden? Ist es vorstellbar, dass irgendjemand innerhalb des Bereichs der gegenwärtigen physikalischen Bedingungen auf Erden volle Belohnung erhalten kann für eine Leistung, die das Leben von unzähligen Menschen für Tausende von Jahren wohltätig beeinflusst und formt?

Wie soeben ausgeführt, lassen es einerseits die in unserer Welt herrschenden physikalischen Gesetze nicht zu, dass die moralischen Auswirkungen von Taten voll zutage treten. Auf der anderen Seite bringen menschliche Taten, die in der kurzen Zeitspanne des irdischen Lebens vollbracht werden, Ergebnisse und Auswirkungen hervor, die sich über einen bedeutend längeren Zeitraum hinaus erstrecken und fortfahren, die Geschicke von unzähligen Individuen in den kommenden Generationen zu beeinflussen. Es ist daher unmöglich für einen Menschen, die vollen Ergebnisse seiner Handlungsweise mit eigenen Augen in dieser Welt zu schauen. Andererseits ist jedoch eine längere Lebensdauer im Rahmen der vorhandenen Naturgesetze nicht möglich. Dies zeigt ganz deutlich, dass diese Welt mit all ihren physikalischen Gesetzen lediglich Vorsorge trifft für das Wachstum und die Entwicklung der physikalischen Seite der menschlichen Persönlichkeit, während sie für das sittliche Streben des Menschen unzureichend ist. Daher verlangt unser moralisches Wesen danach, dass es einen zweiten Akt im Drama des menschlichen Lebens gebe, in dem das moralische Gesetz das beherrschende Gesetz ist und in dem das physikalische Gesetz nur eine untergeordnete Rolle spielt, wo die Zeitspanne des menschlichen Lebens nicht begrenzt sondern unbegrenzt ist, damit die Folgen menschlichen Handelns in all ihrer großen Fülle Blüten treiben können, wo auf Tugend und Rechtschaffenheit allein Wert und Gewicht gelegt wird, anstelle von Silber und Gold, wo Elend das Los lediglich der Sünder ist und das Feuer allein die Schuldigen verschlingt, und wo die Gottesfürchtigen das Monopol des Glücks besitzen. Der Verstand fordert und die menschliche Natur verlangt, dass es eine solche Weltordnung gebe.

Soweit unsere theoretischen Überlegungen gehen, bleiben wir an der Schwelle dessen, was sein sollte. Ob es tatsächlich eine solche Welt gibt, liegt außerhalb des Bereichs unseres Verstandes und Wissens. Es ist der Qur'an, der uns hier zu Hilfe kommt. Er sagt, dass das, was unser Verstand und unser Wesen fordert, tatsächlich eintreten wird.

Er lehrt uns, dass eines Tages die gegenwärtige physikalische Ordnung zerbrechen und damit einer anderen kosmischen Ordnung Platz machen wird, in der die Erde und die Himmel und was immer auch darin vorhanden ist, eine neue Form annehmen werden. Dann wird Gott der Allmächtige die gesamte Menschheit wieder zum Leben erwecken und sie vor sich versammeln. Es wird eine ganze und vollständige Aufzeichnung der Taten jedes Einzelnen und jeder Gemeinschaft, ja tatsächlich der gesamten Menschheit geben, die frei ist von jedem Schatten der Fehlerhaftigkeit und jeglichen Weglassungen. Es wird auch eine vollkommene Niederschrift über den gesamten Umfang der Folgen jeder einzelnen Tat, die in dieser Welt vollbracht wurde, vorhanden sein, und all die Generationen, die von diesen Folgen in irgendeiner Weise beeinflusst worden sind, werden im Zeugenstand anwesend sein. Jedes kleinste Teilchen dieser Erde, das den Stempel menschlichen Handelns trägt, wird die Tatsachen aufzählen, und sogar die Hände und Füße, die Augen und Ohren und jegliches andere Glied eines Menschen werden Zeugnis von dem Gebrauch ablegen, den er in seinem Erdenleben von ihnen gemacht hat. Nachdem all diese Voraussetzungen zur Erfüllung der Gerechtigkeit geschaffen worden sind, wird Gott der Allmächtige, der höchste Richter des Universums, Sein Urteil im Lichte der absoluten Wahrheit verkünden und Belohnung und Bestrafung festlegen. Diese Belohnung und Bestrafung wird von so unendlich großem Umfang sein, dass sie für uns innerhalb der Grenzen unserer gegenwärtigen Weltordnung unvorstellbar sind. Die Maßstäbe von Zeit und Raum werden in jener Welt ganz anders sein, so wie sich auch die Naturgesetze grundlegend von den jetzigen unterscheiden werden.

Jene, deren tugendhafte Taten die Menschen jahrtausendelang zum Guten beeinflusst haben, werden in vollstem Umfang belohnt werden, ohne dass die Möglichkeit von Krankheit, hohem Alter oder Tod ihre unbeschreibliche Glückseligkeit in irgendeiner Weise überschattet. In gleicher Weise werden jene, deren üble Taten den Menschen über lange Zeiträume hinweg Unglück und Leiden gebracht haben, die erforderliche Bestrafung erhalten, ohne dass ihnen irgendeine Möglichkeit des Entrinnens durch Bewusstlosigkeit oder Tod gegeben wird.

Dies ist die islamische Auffassung vom Leben nach dem Tode. Was jene angeht, die ein solches Leben für ein Ding der Unmöglichkeit halten, so kann man für ihre engstirnigen Ansichten nur Mitleid empfinden. Wenn es tatsächlich möglich ist, dass die gegenwärtige Weltordnung mit ihren physikalischen Gesetzen existiert, warum sollte dann die Möglichkeit einer anderen Weltordnung mit einem anders geartetem System von Gesetzen von der Hand gewiesen werden? Natürlich können weder Philosophie noch Wissenschaft ihre tatsächliche Existenz beweisen. Es handelt sich hier vielmehr um eine Angelegenheit des Glaubens an das Unsichtbare.

"Und fürchtet das Feuer, das für jene vorbereitet ist, die den Glauben zurückweisen. Und gehorcht Allah und dem Gesandten, damit ihr vielleicht Gnade findet; und wetteifert miteinander im Trachten nach der Vergebung eures Herrn und nach einem Garten, der so groß und weit ist wie die Himmel und die Erde - vorbereitet für die Gottesfürchtigen."

(Qur'ân, Sure 3:131-133)



Nach oben




© 2000 Dâr-us-Salâm. Alle Rechte vorbehalten.

@ Ekrem Yolcu