Charakterbildung im Islam

Harun Behr

Vorträge über den Islam

Informationszentrale Dâr-us-Salâm 1999

2. Auflage des Vortrags "Akhlâq"
Das Urheberecht liegt beim Autor.
Hrsg.: Informationszentrale
    Dâr-us-Salâm
Redaktion: Tilmann Schaible

ISBN 3-932129-64-4

Dieser Vortrag wurde erstmals gehalten am 8. Februar 1992 auf dem regionalen Treffen deutschsprachiger Muslime in München.



Charakterbildung im Islam:
Vorbemerkung
Worterklärung

1. Teil:
 Wie ist der Mensch beschaffen?
 Die sogenannte Fitra
 Was haben Hanif, Fitra und Akhlâq; miteineander zu tun?
 Zusammenfassung
 Aspekte der Erziehung
 Weitere Richtziele aus dem Bereich Akhlâq
 Falscher Akhlâq

2. Teil:
 Objektivität, Subjektivität und Parteilichkeit

 


Bismillâh Nach oben
AKHLÂQ



Vorbemerkung
In der Regel wird der Ausdruck "Akhlâq" übersetzt mit "Charakter", so dass man das heutige Thema umschreiben könnte mit "Der Charakter des Muslims" oder "Die Charakterbildung im Islam" oder "Gutes Verhalten" und so weiter. Für einen Vortrag wäre das zu weit gefasst. Deshalb habe ich zwei Schwerpunkte gesetzt, und zwar:

1. Grundsätzliche Aussagen des Qur'ans über den Menschen, die uns helfen, die Dimension von so etwas schwer Bestimmbarem wie "Charakter" zu begreifen. 2. Spezielle Aussagen zu einem Akhlâq-Problem aus moderner Sicht: Parteilichkeit.

In meinem Referat soll es nicht darum gehen, wie ich mich in bestimmten Situationen wie verhalte und gutem Charakter Ausdruck gebe (Adâb). Ergänzt werden die beiden Ansätze durch überlieferte Aussagen des Propheten (Hadith) und den Verweis auf missverstandene Konzeptionen von Akhlâq.
Ich will vorab noch erwähnen, dass ich mich zum ersten Mal mit diesem Thema beschäftigt habe. Wie so oft habe ich erkennen müssen, wie weit entfernt ich von dem stehe, was ich euch vorzutragen habe. Ich habe einen neuen Anstoß erfahren, mich, mein Leben und mein Muslim-Sein neu zu betrachten und mein Verhalten zielstrebiger zu verändern. Deshalb fällt es mir sehr schwer, heute auf diesem Podium zu sitzen, denn das letzte, was ich will, ist, andere, die mir in gutem Charakter und Verhalten voraus sind, zu belehren.
Ich sitze nun vor euch nicht als der, der es besser weiß, sondern als ein Bruder, der seinen Wissens- und Erfahrungsstand zu diesem Thema mitteilen kann. Was ich für euch geschrieben habe ist nur ein unvollständiger Ansatz, also ergänzbar, und es ist nicht der Weisheit letzter Schluss, also korrigierbar.

Worterklärung Nach oben



"Akhlâq" stammt ab von dem arabischen Verb "khalaqa", d.h. schaffen, formen. Damit sind verbunden die Substantive "khâliq" bzw. "khallaq", d.h. Schöpfer, "khalq", d.h. Schöpfung, Menschheit, körperliche Beschaffenheit, Geschöpflichkeit, und "khulq", d.h. Charakter, Eigentümlichkeit. Das Wort "akhlâq" ist der Plural von "khulq" und bedeutet "die Lehre von den Eigenschaften der Geschöpfe".

1.Teil:

Wie ist der Mensch beschaffen? Nach oben



Ein längerer Hadith beginnt mit den Worten: "Der Prophet war der beste der Menschen an Charakter..." (Anas; Bukhari), und weiter, in einem anderen Hadith: "Der Prophet hat gesagt: 'Ich wurde gesandt, um Charakter und Benehmen der Menschen vollkommen zu machen.'" (Malik; Muwatta).
Offensichtlich ist hier nicht die Rede von einem besonderen Verhalten der Muslime, sondern von guten, dem Menschen eigenen Charaktereigenschaften, die durch den Islam "vervollkommnet" werden. Es hat also keinen Zweck, sich über die Charakterbildung zu unterhalten ohne zu verstehen, wozu das gut sein soll, das heißt, ohne Sinn und Ziel des menschlichen Lebens verstanden zu haben. Im Qur'an finden wir den bekannten Vers:"Und Ich habe die Dschinn und die Menschen nur dazu erschaffen, dass sie Mir dienen" (51:56). Sinn und Auftrag ist das "Ihm dienen" ('Ibâda). Dieser Gesichtspunkt wird uns im Verlaufe dieser Untersuchung öfter wieder begegnen. Weiter möchte ich die folgende Stelle heranziehen: "Du Mensch! Was hat dich hinsichtlich deines vortrefflichen Herrn verführt (aufsässig gemacht u.Ä.), Der dich erschaffen und ebenmäßig geformt hat und dir so, wie Er wollte, eine Gestalt gab?" (82:6-8). Hier finden wir erwähnt, dass Allah uns zwar nach Seinem Willen innerlich und äußerlich geformt, uns aber Raum zu Veränderung gelassen hat, was durch den in diesem Kontext negativen Umstand unterstrichen wird, dass "die Seele zu Aufruhr neigt". Das bedeutet, dass es in uns Bestandteile gibt, die unveränderlich festliegen, und andere, die veränderbar und daraus folgend grundsätzlich entwicklungsbedürftig sind.
Schreiten wir weiter mit Riesenschritten durch den Qur'an, nun zu einer Stelle, die uns ein Stück von dem erklären soll, was da veränderbar oder unveränderbar ist. Dieser Abschnitt ist ein wenig länger: "Und du kannst nicht bewirken, dass die Toten hören, auch nicht, dass die Tauben den Zuruf hören, wenn sie nun einmal den Rücken kehren. Du kannst auch nicht die Blinden rechtleiten, so dass sie von ihrem Irrtum loskommen. Du kannst nur bewirken, dass diejenigen hören, die an Unsere Zeichen glauben und Uns ergeben (oder: Muslime) sind. Allah ist es, Der euch als Schwache erschaffen hat. Hierauf ließ Er nach Schwäche Stärke kommen. Danach ließ Er der Stärke Schwäche und Vergesslichkeit folgen, Er schafft, was Er will. Er ist Der, Der weiß und kann." (30:52-54).

Ich ziehe daraus folgende Schlussfolgerungen:

1. Die von Allah beschlossenen Dinge liegen fest, z.B. der Tod, der Ablauf des Schöpfungsplans. Das Sehen, d.h. die Erkenntnis des Schöpfers und des rechten Weges, und das Hören, d.h. das Verstehen und Befolgen Seiner Botschaft, sind Gaben Allahs.
2. Veränderungen unterliegen Gesetzmäßigkeiten, wie hier der Bogen, der von der Kindheit über die Blüte des Lebens hin zum Alter geschlagen wird.
3. Der Mensch ist physisch und psychisch schwach, das aber ist veränderbar.
4. Der Mensch wird unfertig geboren, er ist, wie man in der Entwicklungspsychologie sagt, sozialisationsbedürftig, und das ist unveränderbar.

Für mich schließt sich hier die Frage an: Welchen Sinn soll es denn haben, dass Allah uns zunächst einmal einem Zustand der Schwäche überlässt? Warum nicht sofort Stärke und Kraft? Wozu die Mühsal? Verfolgen wir diesen Aspekt weiter, dann stoßen wir auf folgende Stelle im Qur'an: "Allah will euch Klarheit geben und rechtleiten. So war es bei denen, die vor euch lebten. Und Er will Sich euch wieder zuwenden. Er weiß Bescheid und ist weise. Allah will sich euch wieder zuwenden. Die aber, die ihrer Lust folgen, wollen, dass ihr vom rechten Weg abkommt. Allah will euch Erleichterung gewähren. Der Mensch ist ja von Natur schwach." (4:26-28).

Erstens will Allah uns a) an den Beispielen der früheren Völker zeigen, wie das Handeln mit Erfolg und Misserfolg im Diesseits und im Jenseits verbunden ist und b) mit Argumenten zu rechtem Handeln und Erfolg anleiten. Beides steckt in den Wörtern "li-yubayyina lakum". Daraus geht hervor, dass Allah keinen Zwang anwendet, sondern auf die Einsicht baut und auf den freien Willen. Schwäche hat demnach mit der Schulung des Willens zu tun: Nur wer die Schwäche kennt und sie zu überwinden gelernt hat, kann von Einsicht und Vernunft Gebrauch machen, kann einen freien Willen entwickeln und somit Verantwortung tragen.

Zweitens erwähnt Allah hier zweimal das "Sich-wieder-Zuwenden", d.h. das Vergeben, und begründet das mit unserer Schwäche. Das bedeutet in Ergänzung zu Sure 30, dass der Mensch nicht nur entwicklungs-, sondern auch vergebungsbedürftig ist. Das ist sozusagen ein mildernder Umstand, der die Verantwortlichkeit einschränkt. Darin liegt also die Antwort auf unsere Frage: Hätte Allah uns von vornherein stark erschaffen, wären wir für alles voll verantwortlich. Unsere Willensfreiheit wäre eingeschränkt und ein Straucheln auf dem rechten Weg würde unweigerlich zur Bestrafung führen. Ich sehe hier zum Beispiel auch den Grund, warum Allah Iblis nicht vergibt: Aufgrund seines starken Willens ist sein Aufruhr nicht bedingt durch eine verzeihbare Verwirrung oder Schwäche, sondern Ausdruck der unabänderlichen Verworfenheit seiner ganzen Person. Es gibt keinen mildernden Umstand.

Drittens gehen aus dieser Stelle zwei Aspekte hervor, die uns nun mitten in den Bereich von "Akhlâq" führen: Allah will vergeben, und Er will uns den Weg zu Seiner Vergebung leicht machen. Das impliziert den Auftrag an uns: Seid zu Nachsicht bereit und macht es den Menschen leicht und nicht schwer zu Allah zu finden. Letzteres finden wir in vielen Ratschlägen des Propheten und natürlich auch an anderen Stellen des Qur'ans wieder. In einem Hadith heißt es: "Allahs Gesandter sandte Abu Musa und Mu'adh ibn Dschabal nach Jemen. Und jeden von ihnen schickte er in eine Provinz, denn der Jemen bestand damals aus zwei Provinzen. Dann sagte er: 'Macht es den Leuten leicht und nicht schwer, und verkündet ihnen frohe Botschaft und schreckt sie nicht ab.'" (Abu Burda; Bukhari).

Zusammenfassend kann man feststellen, dass in der Schwäche unserer Geschöpflichkeit eine Chance liegt, nämlich kraft der eigenen Willensentscheidung zu einem Zustand unserer Person zu gelangen, der Allah Stärke verleiht, einer Person, die angesichts ihres eigenen Werdegangs zu Nachsicht und Milde gegenüber dem Schwächeren fähig ist und so die Zufriedenheit Allahs erlangt, im Diesseits und im Jenseits. Natürlich darf man die bisherige Überbetonung des Aspekts der Schwäche nicht dahin gehend missverstehen, dass man seine Schwäche kultivieren soll und sich dann alles erlauben darf. Man muss bei Stärke nur darauf achten, dass diese stets mit dem Tragen von Verantwortung verbunden ist, also mit dem "Antwort geben" am Tage des Gerichts. In diesem Licht betrachtet lesen sich Verse wie in Sure 4:34 "Die Männer stehen für die Frauen ein..." vielleicht ganz anders.

Die sogenannte Fitra Nach oben



Wir müssen, ehe wir uns dem Katalog der Dinge widmen, die zum Charakterbild des Menschen zählen bzw. zählen sollen, das Verständnis der bisher erwähnten Aspekte vertiefen und weiterentwickeln. Möge Allah euch für Eure Geduld - auch ein Teil des Akhlâq - belohnen. Wie verhält es sich nun mit den oben erwähnten unveränderlichen Dingen? Ich nehme die folgende Koranstelle zu Hilfe - Vorgeschichte: Ibrahim betrachtet die Gestirne und erkennt die Herrschaft Allahs über Himmel und Erde - also: "Ich wende mich ab jetzt demjenigen zu, der Himmel und Erde erschaffen hat, als Hanîf. Und ich bin keiner von denen, die Ihm etwas zur Seite stellen." (6:79). Ibrahim erkennt, dass dem Kosmos eine feste Ordnung zu Grunde liegt und schließt daraus auf zwei Wahrheiten:

1. Himmel und Erde haben einen ordnenden Schöpfer (Fâtir).
2. Dieser Schöpfer teilt sich über die geschaffene Ordnung mit.

Es ist diese Mitteilung, diese Offenbarung im wahrsten Sinne des Wortes, der Ibrahim antwortet, nicht die Ordnung selber. Dass aber Ibrahim überhaupt fähig ist, über die Betrachtung der Schöpfung zu einem Zwiegespräch mit dem Schöpfer zu gelangen, ist von Allah so geplant, festgelegt, geschaffen - kurzum: Die Fähigkeit, Allah als den Schöpfer und sich selbst als geschaffen zu erkennen, gehört offenbar zu den Anlagen, die Allah dem Menschen unabänderlich mitgegeben hat. Unabhängig von der Bereitschaft gehört diese Befähigung sozusagen zur Natur des Menschen, weshalb man dies mit "Naturanlage" (Fitra) bezeichnet. Diese Anlage hilft dem Menschen nicht nur, Allah zu erkennen, sondern, wie aus der Geschichte Ibrahims hervorgeht, sich zu Ihm zu bekennen, d.h. Zeugnis abzulegen gegen alle Anschauungen die der Einzigkeit Allahs (Tauhîd) widersprechen, was Ibrahim denn auch sofort unternimmt: Er ruft seinen Vater, den Bildhauer, auf, vom Götzendienst abzulassen.
Jemanden, der auf diese Weise zu Allah findet, bezeichnet der Qur'an als "Hanîf". Gewiss sind wir bei der Betrachtung des Hanîfen auf der richtigen Spur, wenn wir unserer ursprünglichen Frage nach dem grundlegenden guten Charakterbild des Menschen im Islam nachgehen.

Was haben Hanîf, Fitra und Akhlâq miteinander zu tun? Nach oben



Dazu die Koranstelle: "Richte nun dein Gesicht auf die Religion, als Hanîf. Das ist die natürliche Art, in der Allah die Menschen erschaffen hat. Die Art und Weise, in der Allah (den Menschen) gefügt hat, kann man nicht abändern. Das ist die richtige Religion - aber die meisten Menschen wissen nicht Bescheid - indem ihr euch Ihm zuwendet. Und fürchtet Ihn, und verrichtet das Gebet, und stellt Ihm nichts zur Seite..." (30:30-31). Dies sind zwei Schlüsselverse zu unserem Thema, die uns nachher noch einmal unter dem zweiten Schwerpunkt des Vortrags beschäftigen sollen. An dieser Stelle aber wollen wir folgendes unterstreichen:

1. Allah ruft uns auf, diese Naturanlage als "Quelle" zu benutzen, d.h. im Grunde genommen zu ihr zurückzukehren. Aus diesem Grunde ist sie überhaupt im Qur'an erwähnt. In dem viel zitierten Bild vom Wieder-Kind-Werden im Glauben geht es meiner Meinung nach um genau diesen Aspekt des ursprünglichen Glaubens, der von der Naturanlage her gesehen eigentlich nicht Glauben, sondern Wissen darstellt - eben so, wie es einem Kinder gelegentlich deutlich machen: Da ist kein Platz für Zweifel.
2. Weiterhin weist uns die Formulierung "die meisten Menschen wissen nicht Bescheid" darauf hin, dass durch ungünstige Einflüsse, die meistens im Kindesalter wirken, diese natürliche Anlage sozusagen "verschüttet" werden kann, und dass es dann notwendig ist, sie wieder "freizuschaufeln". Dazu braucht der Mensch die Offenbarung in Form von einer Schrift und einem Gesandten, damit er das wieder erlernt, was er im Grunde schon einmal wusste.

Der Islam ist sowohl die Lebensweise, die der Naturanlage entspricht, also von einer Person mit "intakter" Fitra sofort als die Wahrheit erkannt wird, als auch die Lebensweise, die in der Lage ist, den Zugang zum ursprünglichen Erkenntnisweg, also dem ungestörten Zwiegespräch mit dem Schöpfer, durch Anleitung zum rechten Verhalten den Weg freizuräumen. Dies ist der Grund, warum in dem ganz am Anfang erwähnten Hadith über den Zweck der Sendung des Propheten nicht Allah, nicht der Qur'an, nicht der Islam und nicht der Jüngste Tag erwähnt sind, sondern die Vervollkommnung der guten Charaktereigenschaften des Menschen.

Zusammenfassung Nach oben



Fitra ist die unveränderliche Naturanlage des Menschen, Allah als den Einzigen und als den Schöpfer, und sich selbst als geschaffen zu erkennen und darüber Zeugnis abzulegen.
Akhlâq ist die veränderliche Eigenschaft des Menschen, durch die Summe seines Handelns seinem Gehorsam gegenüber dem Schöpfer stärker oder schwächer Ausdruck zu verleihen.

Die Facetten des "Gehorsams", mit dem ich Akhlâq nun in Verbindung gebracht habe, ergeben sich aus den bisher erwähnten Koranstellen bzw. aus dem unmittelbaren Kontext, in den sie gebettet sind, wobei die Reihenfolge eine gewisse Rolle spielt.

Gehorsam besteht aus:

1. Zeugnis ablegen (Tauhîd vs. Schirk)
2. angesichts des Gerichtstages leben
3. Befolgen der Botschaft
4. 'Ibâda
5. Nachsicht und Vergebung / Schutz des Schwächeren
6. Einhalten der von Allah gezogenen Grenzen (Halâl und Harâm)
7. Abstand halten zu den Übertretern

Schwächen im Akhlâq ergeben sich entweder aus einer insgesamt schwachen charakterlichen Grundsubstanz des Menschen, oder aber durch ein Ungleichgewicht in den Facetten des Gehorsams. Wer z.B. nicht Zeugnis ablegt, andererseits aber eifrig darauf bedacht ist, Abstand zu den Übertretern zu halten, oder wer mit detektivischem Eifer Verbotenes in seiner Nahrung sucht, dem Schwächeren aber den Schutz versagt, der gerät alsbald in eine schiefe Lebenslage.
'Ibâda wird meistens übersetzt mit "Gottesdienst", das sind die Pflichten, die der Muslim gegenüber Allah zu erfüllen hat, also das Pflichtgebet, das Fasten, die Hadsch usw. Aber man muss sich davor hüten, den Begriff zu eng zu sehen, was ich mit einem Hadith verdeutlichen will: "Allahs Gesandter hat gesagt: 'Gute Meinung (über den anderen) gehört zur guten 'Ibâda.'" (Abu Huraira; Mischkât). Die gute Meinung über den anderen ist ein Zeichen von gutem Charakter - so eng ist die Lehre von den guten Eigenschaften mit dem Dienst an Allah verknüpft.

Aspekte der Erziehung Nach oben



Ihr habt sicher bemerkt, dass wir bei der Beschäftigung mit den veränderlichen Eigenschaften des Menschen mehr und mehr in die Domäne der Erziehung vorstoßen. Obwohl sie heute nicht unser Thema sein soll , wäre es nachlässig, nicht wenigstens ein paar Worte darüber zu verlieren, vor allem um dem einen oder anderen unter euch die Motivation zu vermitteln, auf dieser Schiene weiterzudenken.

Ein zentraler Begriff in der Erziehungswissenschaft ist das Lernen. Man kann Lernen sehr weit gefasst als Verhaltensänderung definieren, wobei Wissen, Verstehen und Einstellung auch als Verhalten beschrieben werden. Wir können das übertragen auf das, was wir bisher erarbeitet haben und feststellen: Durch die altersgemäße Hinführung zu richtigem Verhalten in den entsprechenden Situationen (Lehren) wollen wir die guten Eigenschaften (Akhlâq) fördern (Erziehung).
Das klingt schön griffig und eingängig, verleitet aber leicht zu dem Missverständnis, Ziel der islamischen Erziehung sei es, den Handlungskodex, z.B. das Gebet, zu lehren, die Gebote und Verbote deutlich zu machen und den Glauben zu vermitteln. So geht es nicht.

Wenn wir von der oben erwähnten Sure 30 ausgehen und weiterlesen bis in die Sure 31 hinein, begegnet uns die Geschichte von Luqman und seinem Sohn. Luqman entwirft gegenüber seinem Sohn einen Katalog von Elementen des Gehorsams, der ungefähr obiger Aufstellung entspricht (31:12-19):

1. Tauhîd
2. Milde
3. angesichts des Gerichtstages leben
4. Befolgen der Botschaft (Luqmans)
5. Gebet
6. Einhalten der Grenzen
7. dem folgen, der sich Allah zuwendet (hier ist dieser Aspekt im Gegensatz zu oben interessanterweise positiv formuliert - ein didaktischer Aspekt).

Dann aber heißt es: "Dies ist eine gute Art, Entschlossenheit (oder: Urteilskraft) zu zeigen", worauf direkte Handlungsanweisungen folgen, die ganz konkret "guten Charakter" erkennen lassen: den Leuten nicht die kalte Schulter zeigen, nicht überheblich auf der Erde einhergehen, Geduld und Gelassenheit zeigen, die Stimme dämpfen. Wichtig ist, dass das richtige Verhalten auf Einsicht und Urteilskraft ('Asmu-l-umûr) beruht, und das ist es, worauf Erziehung abzielen soll: auf die Schulung der Urteilskraft bzw. Mündigkeit, die Stärkung des Willens und somit die Befähigung, all das zu leisten, was zum guten Akhlâq gehört. Also eine klare Absage an die zwanghafte Herbeiführung von Erziehungszielen.
Noch etwas erwähnt Luqman gegenüber seinem Sohn, was ich bisher unberücksichtigt gelassen habe, was aber viel enger mit der Frage von Akhlâq verbunden ist als manch einer vielleicht wahrhaben will, und zwar "das Gebieten des Rechten und das Verbieten des Unrechten (al-amr bi-l-ma'rûf wa-n-nahi 'ani-l-munkar)". Dazu eine andere Koranstelle, die das erläutert: "Übe Nachsicht, gebiete was recht ist und wende dich von den Toren ab..." (7:199). Dazu heißt es im Kommentar: Als der Engel Gabriel diesen Vers brachte, sagte er (zum Propheten): "Das heißt, dass du demjenigen vergibst, der dir Unrecht angetan hat, mit demjenigen Verbindung hältst, der sie abgebrochen hat und demjenigen gewährst, der dir versagt hat."

Weitere Richtziele aus dem Bereich Akhlâq Nach oben



Um diesem allgemeinen Teil einen etwas konkreteren Abschluss zu geben, sollen nun weitere sehr oft genannte Aspekte des Akhlâq genannt werden: Schlichtheit, Geduld, Sanftmut, Aufrichtigkeit, Hilfsbereitschaft, die Schwächen des anderen nicht hinaustragen, dem anderen ein "Spiegel" sein, die Geheimnisse der Ehe und Familie bewahren, Zielstrebigkeit, schnelle Entschlusskraft und vieles mehr.
Ich möchte noch darauf hinweisen, dass al-Ghazali in seinem Werk "Die Wiederbelebung des Wissens über die Religion" ein Kapitel über die Brüderlichkeit (Ukhuwwa) geschrieben hat, das jeder gelesen haben sollte.

Falscher Akhlâq Nach oben



Ihr seid nun in der Lage, Konzepte zu widerlegen, die von einem missverstandenen Begriff von Akhlâq ausgehen, beispielsweise die Annahme, man könne guten Charakter aus Büchern lernen. Es gibt viele wertvolle Bücher, die detailliert auf gutes Verhalten eingehen. Allen voran will ich hier Riyâd-us-Sâlihîn von Imam an-Nawawi erwähnen. Das ist ein Hadith-Werk, das das vorbildliche tägliche Verhalten des Propheten auch in den Alltagsdingen beschreibt. Jedoch gilt auch hier, dass die Kraft, diese Informationen richtig auszuwerten und anzuwenden, aus der Beziehung zwischen dir und deinem Schöpfer und aus deiner ganz individuellen Erfahrung als Muslim geboren wird. Sie lässt sich nicht durch kochrezepthaftes Anwenden von Verhaltensregeln herbeizaubern. Noch problematischer ist die Lage für Leute, die meinen, jemand, dem sie Vertrauen schenken, sei in der Lage, ihnen Akhlâq sozusagen mit dem Trichter einzuflößen. Sie "folgen" ihm und erwarten von ihm speziell auf sie zugeschnittene und von alters her überlieferte Anweisungen, die sie nur zu befolgen brauchen, und schon stehen sie da mit einem Akhlâq wie von Geisterhand ins Gesicht geschrieben. Hütet euch davor und meidet alles, was mit dem verlockenden Angebot an euch herantritt, euch ganz exklusiv und bequem in die Nähe Allahs rücken zu können. Das nun folgende Kapitel wird deutlich machen, wohin Handlungen führen, die den Hauch der Mitgötterei tragen.

2.Teil:

Objektivität, Subjektivität und Parteilichkeit Nach oben



Die Grundlage für Charakter und Verhalten war, wenn wir das bisher Gesagte auf einen knappen Nenner bringen wollen, die völlige Ausrichtung der Perspektive auf Allah und die Begegnung mit Ihm. Auch das Leben in der Gemeinschaft, in der Akhlâq sichtbar wird, soll durch die Ausrichtung auf Allah allein geprägt sein: "Und haltet allesamt fest am Seil Allahs und spaltet euch nicht..." (3:103). Der entgegengesetzte Zustand wird in der folgenden Passage erwähnt: "Mit denen, die ihre Religion geteilt haben und zu Parteien geworden sind, hast du nichts gemein..." (6:159).
Die Ursache für den Missstand des fruchtlosen Meinungsstreits ist Unsachlichkeit, denn Sache ist das "Festhalten am Seil Allahs", also in den Angelegenheiten des Islam "an einem Strang ziehen". Die Wurzel dieser Unsachlichkeit liegt in der Parteilichkeit, der Geisteshaltung des unreifen und schwachen Charakters, der noch einen langen Weg bis zur Erstarkung seiner Willenskraft vor sich hat. Damit wir in Zukunft diese Gefahren besser erkennen, hier drei sehr bewährte Definitionen:

Objektivität ist die Eigenschaft von Aussagen, unabhängig von Einstellungen des wertenden Menschen, die diese Aussagen machen oder an die sie gerichtet sind, zu gelten.

Subjektivität ist eine Art von Befangenheit, nach den Maßstäben des Ichs zu urteilen und sich nicht an den Urteilen anderer zu versichern.

Parteilichkeit ist die Bereitschaft, sich in seinen Einzelentscheidungen von einer verbindlich gemachten Kollektivmeinung leiten zu lassen und gegenläufige Meinungen prinzipiell nicht für diskutabel zu halten. Parteilichkeit wird aber tagtäglich von den meisten Menschen gefordert.

Es gehört zum Akhlâq, nicht parteilich zu sein, damit man den Blick für das objektiv Wahre nicht verliert. Denn sonst laufen wir Gefahr, von Personen missbraucht zu werden, die von Parteilichkeit profitieren. Der Qur'an warnt eindringlich vor diesem Missbrauch: "Pharao war im Lande mächtig und machte seine Einwohner zu Parteien, wobei er eine Gruppe von ihnen unterdrückte und ihre Söhne abschlachtete und nur ihre Frauen am Leben ließ - er war einer von den Unheilstiftern..." (28:4).
Noch deutlicher wird die Warnung vor Voreingenommenheit aufgrund anderer Motive als dem der alleinigen Ausrichtung auf Allah an einer Stelle, die uns jetzt wiederbegegnet. Hier werden auf der einen Seite Fitra, Akhlâq und der Charakter des Hanîfen unmittelbar opponiert zu falscher Parteilichkeit auf der anderen Seite: "Richte nun dein Gesicht auf die Religion, als Hanîf... und seid nicht solche, die Allah etwas zur Seite stellen - die ihre Religion geteilt haben und zu Parteien geworden sind, wobei jede Gruppe sich über das freut, was sie bei sich hat." (30:30-32).
Die Neigung des Menschen, aufgrund von Präferenzen Subjektivität und Parteilichkeit zu entwickeln, ist aber für sich genommen noch nichts Schlechtes, solange diese Tendenz in dem Rahmen bleibt, den Allah in Bezug auf "Parteinahme" setzt, nämlich: "...und denen, die auf der Seite (Hizb) Allahs stehen, wird es wohl ergehen." (58:22).
Wie ist nun der Charakter dieser "Partei" beschaffen? "...Leute, die Er liebt und die Ihn lieben, die den Gläubigen gegenüber bescheiden sind, jedoch die Leugner ihre Macht fühlen lassen und die um Allahs willen kämpfen und sich dabei vor keinem Tadel fürchten..." (5:54 ff). "Und dies ist eure Gemeinschaft. Es ist eine einzige Gemeinschaft. Und Ich bin euer Herr. Und Mich sollt ihr fürchten." (23:52).

Diejenigen, die den besten Charakter entwickeln, werden im Qur'an als die "Diener des Gnadenreichen" ('Ibâdu-r-rahmân) mit den folgenden Eigenschaften beschrieben (25:63 ff):

1. Sie treten demütig und bescheiden auf.
2. Sie sagen "Salâm" zu den Törichten, von denen sie angesprochen werden.
3. Sie verbringen die Nacht im Zwiegespräch mit ihrem Herrn.
4. Sie spenden - weder geizig, noch verschwenderisch.
5. Sie stellen Allah nichts zur Seite.
6. Sie töten nicht zu Unrecht.
7. Sie begehen keine Unzucht.
8. Sie legen kein falsches Zeugnis ab.
9. Sie gehen vornehm an leerem Gerede vorüber.
10. Sie sind nicht taub und blind gegenüber den Zeichen ihres Herrn.
11. Sie sind geduldig.

Dies, liebe Brüder und Schwestern, soll unsere Gemeinschaft sein. In diesen Dingen dürfen, ja sollen wir parteilich sein.

Ich möchte nun meinen Vortrag so beenden, wie ich ihn begonnen habe: mit einer Aussage über unseren Propheten Muhammad. Im Qur'an heißt es über ihn: "...und du hast einen großartigen Charakter." (68:4). Dazu heißt es im Kommentar: "Sein Charakter war der Qur'an; er gehorchte Seinem Befehl, ließ sich durch Seinen Verweis zurückhalten, war zufrieden um Sein Wohlgefallen zu erlangen und zürnte um Seines Zornes willen."

Subhânaka allahumma aschhadu an lâ ilâha illâ ant. Astaghfiruka wa atûbu ilaik.

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@ Ekrem Yolcu