Der Prophet (s) und die Erziehung seiner Gemeinschaft

Muhammad ist nicht der Vater eines eurer Männer, sondern Gottes Gesandter und das Siegel der Propheten, und Gott kennt alle Dinge wohl. Ihr, die ihr glaubt, gedenkt Gottes in häufigem Gedenken und lobpreist Ihn früh und spät. Er ist es, der euch segnet, und Seine Engel beten um Segen für euch, daß Er euch aus den Finsternissen zum Licht führe, und Er ist den Gläubigen gegenüber barmherzig. Ihr Gruß an dem Tag, da sie Ihm begegnen, ist: "Friede!" Um Er hält für sie ehrenvollen Lohn bereit. O Prophet, Wir haben dich als einen Zeugen gesandt, als Überbringer von Verheißung, als Warner, als einen Aufrufer zu Gott mit Seiner Erlaubnis und als leuchtende Sonne. Verheiße den Gläubigen, daß ihnen von Gott große Gnade zuteil werden soll (Sura 33:41-48).


Die Sunna des Propheten Muhammad (s) ist die zweite grundlegende Quelle für Glauben und Praxis im Islam. Während jedoch der Qur'an als schriftliches Dokument jedem Muslim vertraut ist, ist der Begriff Sunna weit weniger greifbar. Bei dem einen löst er vielleicht zunächst den Gedanken an die zusätzlichen Gebete vor und nach den fünf Pflichtgebeten aus; ein anderer denkt vielleicht an die Beschneidung, im Türkischen einfach "Sünnet" genannt; ein anderer fühlt sich an bestimmte Verhaltensweisen beim Essen und Trinken oder sonst im Alltagsleben erinnert; wieder ein anderer denkt gleich an die unzähligen Bände der Hadîth-Literatur. Alle diese Assoziationen sind durchaus richtig und dennoch nur Bruchstücke eines zusammenhängenden Ganzen. Sunna bedeutet Gewohnheit, Lebenspraxis, und im engeren Sinne verwendet man das Wort als Fachausdruck für die Lebenspraxis des Propheten Muhammad (s) im Kreise der ersten Gemeinschaft muslimischer Männer und Frauen.


Dazu gehört natürlich auch das persönliche Verhalten im Alltagsleben, obgleich äußere Formen der Begrüßung, der Gastfreundschaft, des Essens, der Kleidung usw. sich nicht wesentlich vom "Knigge" der damaligen Zeit unterschieden. Der Kern der Sunna jedoch - und insofern ist sie tatsächlich eine Quelle, die zusammen mit dem Qur'an als Grundlage zu Lösungsansätzen für zeitübergreifende Probleme benutzt werden kann und sollte - ist die grundsätzliche Haltung und Methode des Propheten (s) nicht nur bei der Verkündigung seiner Botschaft, sondern bei der schrittweisen Erziehung der Menschen, die seine Botschaft annahmen, und beim Aufbau der Gemeinschaft.


Die Begriffe Sunna und Hadîth werden heute gelegentlich synonym benutzt, denn Einzelheiten der Sunna sind uns heute in erster Linie durch die Hadîth-Literatur zugänglich, durch den Bericht von der Sunna. Nun bekommen wir durch die Hadîthliteratur aber nicht gleich ein Gesamtbild von der Lebenspraxis des Propheten (s), sondern eine Menge kurze Berichte, oft nach Themenbereichen und Sachfragen sortiert, die eher wie Bestandteile eines Puzzles aussehen und nur schwer zusammenzusetzen sind, wenn man nicht zumindest eine allgemeine Vorstellung von den Grundzügen des Gesamtbildes hat, und auch dann werden oft Lücken und perspektivische Unklarheiten bleiben. Dennoch werden in Verbindung mit der allgemeinen Lebensbeschreibung des Propheten (s) Züge deutlich, die uns helfen können - nicht eine Kopie des Propheten (s) und seiner Gefährtinnen und Gefährten zu werden, wohl aber unsere heutigen Fragen in seinem Sinne und zu Gottes Zufriedenheit in Angriff zu nehmen.


Wenn ich nun im folgenden die Lebenspraxis des Propheten (s) kurz umreiße, möchte ich nicht, wie es oft getan wird, mit der "fertigen" Praxis von Medina anfangen, auch nicht mit der Zeit der ersten Offenbarung, sondern bereits mit der Lebenspraxis vor der Berufung. Zu den Eigenschaften, die den jungen Kaufmannes Muhammad (s) kennzeichneten, gehörten Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, die ihm im Geschäftsleben den Beinamen al-Amîn (der Vertrauenswürdige) einbrachten, und ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, der ihn zu seinem Engagement in Hilf al-Fudûl verlanlaßte, einer Gruppe junger Männer, die sich die Aufgabe gestellt hatten, den Armen zu ihrem Recht zu verhelfen. Auf diese ethische Grundlage seiner Spiritualität bezieht sich der Qur'an, wenn er die Leute darauf hinweist, daß der Prophet einer von ihnen ist und sie ausreichend Gelegenheit hatten, seine charakterliche Integrität kennenzulernen, so daß vor diesem Hintergrund Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit merkwürdig erscheinen müssen. Auch der Prophet (s) selbst argumentiert später den Quraish gegenüber weder mit Wundern noch mit dem Qur'an, sondern in erster Linie damit, daß sie ihn doch seit jeher gekannt haben.


Über diese charakterlichen Eigenschaften hinaus ging seine Suche. Die meisten seiner Zeitgenossen in Mekka praktizierten polytheistische Religionsformen mit bestimmten religiös begründeten Privilegien für Angehörige bestimmter Sippen. Darüberhinaus gab es in Mekka einzelne Christen, darunter auch Gelehrte wie Waraqa bin Nawfal, und einzelne Juden. Es gab jedoch auch die sogenannten Hanîfen, die, ohne sich zum Judentum oder Christentum hingezogen zu fühlen, ihren eigenen monotheistischen Weg suchten, und zwar meist in Anlehnung an die Abrahamsüberlieferung, die trotz des weit verbreiteten Polytheismus eine ganz allgemein zentrale Rolle spielte. Es ist ansonsten kaum noch zu rekonstruieren, mit welchen anderen religiösen Gruppen die Quraish durch ihre Handelsbeziehungen außerdem in Berührung kamen. Die verschiedensten Formen des Christentums gab es in Palästina, Syrien, dem Irak, Äthiopien und Ägypten. Auch im Judentum der damaligen Zeit gab es unterschiedliche Strömungen. Die Araber kamen aber jedenfalls auch mit persischen Zarathustriern in Berührung sowie, zumindest indirekt, mit Buddhisten, die bis ins persische Reich hinein verbreitet waren. Verbunden mit dieser Begegnung waren nicht allein die Glaubensvorstellungen, sondern auch die entsprechenden Gesellschaftssysteme. Mekka befand sich in einer unabhängigen Position gegenüber den damaligen Großmächten Byzanz und Persien mit ihren Gesellschaftsstrukturen, die gerade zu diesem Zeitpunkt anfingen, Verfallserscheinungen zu zeigen. Religiöse Suche geschah also nicht im luftleeren Raum, auch nicht die des jungen Muhammad (s), der sowohl gegen den Polytheismus als auch gegen religiöse Privilegien als auch gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeit im allgemeinen eine Abneigung hatte. Er war in geschäftlichen und soziopolitischen Dingen ein erfahrener Mann, als er mit vierzig Jahren anfing, in die Einsamkeit zu gehen, um zu fasten und zu beten. Mit seiner Frau Khadija verbanden ihm übrigens auch in dieser Hinsicht die größten Gemeinsamkeiten, so daß es nicht weiter verwundert, daß sie seine prophetische Erfahrung gleich richtig einschätzen und ihn stützen konnte.


Bis hierher war es eigenes Streben auf der Grundlage einer soliden ethischen Haltung. Offenbarung wird jedoch gegeben; sie ist nichts, was abrufbar oder herstellbar wäre wie manche ekstatischen Zustände, obgleich sie andererseits einen Menschen nicht völlig unvorbereitet und ohne jede Grundlage und eigenes Suchen überkommt. In der Theologie gibt es verschiedene Tendenzen, das Schwergewicht auf menschliche Bemühungen oder göttliche Gnade zu legen. In der Tat scheint aber ein Dialog zwischen Gott und Mensch vorzuliegen, bei dem Offenbarung eine extrem deutliche und ausführliche Anrede Gottes an die Menschen ist, die nur besonders geeignete Menschen empfangen können. Für den Propheten Muhammad (s) war sie sowohl die Antwort auf eine lebenslange Suche als auch der Beginn eines neuen Lebensabschnittes mit dem Auftrag, Lehrer der Menschen zu sein.


Wir müssen hier nun zwei Vorgehensweisen unterscheiden. Das eine ist die Erziehung von Menschen zu Mitgliedern einer bestehenden Gemeinschaft. Bei der Kindererziehung fängt man damit an, Kinder zum Guten anzuregen und vom Schlechten und Schädlichen fernzuhalten, noch bevor sie in der Lage sind, selbst solche Zusammenhänge zu erkennen. Später lernt das Kind ethische Werte kennen, oft zunächst anhand von Geschichten, die sie veranshaulichen; es erfährt mehr in bezug auf seine Rolle im Gefüge der Gemeinschaft, über Taktgefühl im zwischenmenschlichen Umgang und über menschliche Verantwortung an sich und wird schließlich angeregt, sich Gedanken über den Sinn seines Lebens zu machen. Der Qur'an, so wie er angeordnet ist, folgt einer ähnlichen Linie, wenn auch auf eine Art und Weise, wie sie erwachsenen Lesern eher angemessen ist, denn Gebote und Verbote stehen dort nicht isoliert und für sich selbst: sie sollen den zwischenmenschlichen Umgang im Gemeinschaftsleben regeln, ohne das eine optimale Entfaltung des Individuums micht möglich ist, und sie werden erläutert. Die Geschichten im Qur'an veranschaulichen nicht nur Werte und Gesetzmäßigkeiten, sondern auch innermenschliche und gesellschaftliche Entwicklungsprozesse und Konflikte. So zeigt etwa die Adamsgeschichte eine menschliche Grunderfahrung von Fehltritt, Reue und Vergebung; die Geschichte von Abraham, der seinen Sohn opfern soll, die des inneren Konflikts zwischen der Liebe zu Gott und den eigenen Interessen; die Auseinandersetzung zwischen Mose und Pharao zeigt einerseits den Konflikt zwischen Vernunft und Ego und andererseits den politischen Widerstand gegen den Tyrannen: Großer und kleiner Jihad sind zwar zu unterscheiden, aber nicht völlig voneinander getrennt; usw.


Das andere ist die Erziehung von Menschen auf der Grundlage einer bestehenden, wenn auch mangelhaften Gesellschaft, zu einer höheren Ebene der Erkenntnis und Verantwortung, so daß aus den so entfalteten Individuen schließlich eine neue Gemeinschaft wachsen kann. Dies ist die Linie, die der Prophet (s) mit seinen Gefährtinnen und Gefährten (sowie die mystischen Lehrer späterer Jahrhunderte mit ihren Schülern) verfolgte bzw. die in der chronologischen Abfolge des Qur'an gegeben ist, die deswegen auch nie ganz aus den Augen verloren wurde: zumindest in groben Zügen wird seit jeher angegeben, welche Texte aus Mekka und welche aus Medina stammen, und die Zusammenhänge zwischen den Textabschnitten und ihrem historischen Hintergrund werden erforscht, allerdings immer unter Berücksichtigung ihres transzendenten Ursprungs: sie sind nicht einfach nur Dokumente des Zeitgeschehens, sondern sprechen in die damalige Zeit hinein und über sie hinaus.


So wird anfangs der Prophet (s) selbst angesprochen und aufgefordert, zu lesen bzw. auch vorzutragen, unter Hinweis auf die Geschöpflichkeit des Menschen und die Barmherzigkeit des Schöpfers, der den Menschen lehrt. Frühe Texte enthalten oft diesen Aspekt der Dankbarkeit und die Erinnerung an die menschliche Endlichkeit und persönliche Verantwortung. Wir müssen dabei bedenken, daß diese Texte nicht nur für den Propheten (s) selbst eine zentrale Role spielten, sondern auch für den kleinen Kreis derer, die sich ihm als erste anschlossen: seine Frau
Khadija
; sein junger Vetter Ali, der in seinem Haushalt aufwuchs; sein Adoptivsohn Zaid; sein Freund Abu Bakr; usw. Wir müssen auch davon ausgehen, daß sich diese ersten Muslime von der Offenbarung ebenso direkt angesprochen gefühlt haben müssen wie der Prophet (s) selbst, denn sie zögerten nicht, ihren Inhalt zu verinnerlichen, für sich selbst eine neue spirituelle Dimension und Perspektive zu entwickeln und diese Gedanken und Impulse im Verwandten- und Freundeskreis weiterzugeben. Die Anzahl wuchs durch den Zustrom von Armen und Sklaven, aber auch von jungen Menschen, die sich ihre eigenen Gedanken machten.


Obgleich der größere Teil der Offenbarungsgeschichte in Mekka spielt, gibt es in der Hadîthliteratur nur vergleichsweise wenige Berichte aus dieser wichtigen Zeit, und es ist darum nicht leicht, die Situation der frühen Muslime in Einzelheiten zu rekonstruieren. Zentrum der jungen Gemeinschaft wurde sehr bald das Haus des Arqam, wo sich die Muslime versammelten. Einen zentralen Stellenwert hatte - in Anlehnung an die ersten offenbarten Textabschnitte - das Lehren und Lernen, und zwar offensichtlich nicht allein in Form von Aufnahme und Verbreitung von Informationen, sondern im Sinne der Erfahrung, in Verbindung mit einer Zukunftsvision und auf die mitmenschliche Praxis ausgerichtet. Ich würde die Hauptschwerpunkte der damaligen Zeit mit zwei Begriffen umreißen, die im Qur'an oft als Paar auftauchen und in der späteren Zeit formalisiert worden sind:


          1.  Salâh, heute benutzt für das rituelle Gebet, eine Abfolge von Rezitation offenbarter Texte, Gesten des Akzeptierens und der Hingabe, dem Glaubensbekenntnis, Segenswünschen für den Propheten (s), Lobpreisungen und Fürbitten. Das Wort stammt jedoch von einer Wurzel, die verbinden bedeutet, und insofern liegt der Sinn des rituellen Gebets darin, die Verbindung zu dem Einen Gott aufzunehmen, uns auf Ihn auszurichten, uns unserer Verantwortung Ihm gegenüber bewußt zu werden, uns bei Ihm geborgen zu fühlen. In der Tat wird nämlich die Verbindung von zwei Seiten her aufgenommen. In dem eingangs zitierten Textabschnitt heißt es: "Er ist es, der euch segnet, und Seine Engel beten um Segen für euch ...", und das Wort für segnen ist hier dasselbe wie das Wort für beten seitens der Menschen oder der Engel. Insofern wäre es keinesfalls ausreichend, das rituelle Gebet nur auf seiner formalen Ebene zu verstehen. Es geht vielmehr um einen lebendigen Dialog zwischen Schöpfer und Geschöpf, der zwar in den fünfmaligen rituellen Gebeten einen Brennpunkt findet, sich aber in Wirklichkeit im gesamten Leben manifestiert.


          2.  Zakât, heute benutzt für einen bestimmten Prozentsatz des Vermögens, der Armen und Bedürftigen gegeben wird. Aus dem Wortfeld gehen aber eindeutig die Aspekte des Wachsens und Gedeihens einerseits und
des sich Reinigens und Läuterns
andererseits hervor. In der mekkanischen Zeit war Zakât schon allein deswegen keine formalisierte Institution, weil die Infrastruktur zum Sammeln und Verteilen der Mittel nicht vorhanden war. Was es jedoch gab, war die innere Haltung, sich von der Anhaftung an materielle Güter zu reinigen und sich Gott dankbar zu erweisen, indem man das, was Er gegeben hatte, weitergab, und eine Mitmenschlichkeit und Solidarität, die die Bedürfnisse des anderen erkannte und ihm mit materieller Hilfe ebenso wie mit Rat und Tat zur Seite stand. Damit verbunden ist die bereits beim Propheten (s) hervorgehobene Ehrlichkeit und Vertrauenswürdigkeit in wirtschaftlichen Angelegenheiten, ohne die das Grundübel der Ausbeutung und Unterdrückung weiterwuchern würde und jede "Spende" nur eine Linderung der Symptome wäre.


Die Erfahrung der Muslime in Mekka war die Erfahrung in der Minderheitssituation. Jeder einzelne war gefordert. Es gab keine Normen, über deren Einhaltung die "soziale Kontrolle" wachte, sondern ein inneres Verantwortungsgefühl für Werte, die im Tun und Lassen verwirklicht werden sollten - oft gegen den Druck der Normen der Mehrheitsgesellschaft. Um auf das Beispiel der Zakât zurückzukommen: es gab kein Bait al-Mâl
und keine 2,5%-Regelung, aber die gegenseitige Hilfeleistung funktionierte, weil die gläubigen Menschen nicht auf ihre eigenen Belange fixiert, sondern für die Bedürfnisse anderer empfänglich waren. Die Muslime waren wie Geschwister, die einander kannten und sich gegenseitig stützten.


Abgesehen davon waren die Muslime nicht eine Minderheit, der gewisse Grundrechte zustanden, sondern eine verfolgte Minderheit. Sie waren tagtäglich verbalen und physischen Angriffen ausgesetzt und wurden, soweit sie als Sklaven oder Arme von Gegnern des Islam abhängig waren, gefoltert und bisweilen sogar getötet. Während des Boykotts waren sie schweren Entbehrungen ausgesetzt. Wäre die Lehre des Islam nichts weiter gewesen als ein ideologisches Programm, dann wäre es kaum möglich gewesen, diese dreizehn Jahre mit gesundem Selbstwertgefühl zu überstehen. Insofern möchte ich auf das Beispiel von Salâh zurückkommen: die Gewißheit, die auf einer tiefen inneren Kommunikation beruhte, gab den Muslimen Mut, Kraft und Geduld.


Abgesehen von der ausdrücklichen Aufforderung Gottes gab es für den Propheten (s) und die Muslime mehrere Beweggründe, Mekka schließlich zu verlassen. Einer davon war sicherlich die Verfolgung, die bereits der Anlaß dafür gewesen war, daß einige Muslime nach Abessinien ausgewandert waren. Der zweite war eine Einladung der Bewohner von Yathrib (später Medina), die in der Vermittlung des Propheten (s) eine Möglichkeit sahen, die generationenlange Stammesfehde in der Stadt zu beenden. Damit verbunden ergab sich drittens die Möglichkeit, ein Gemeinwesen auf der Grundlage der ethischen Prinzipien des Islam zu verwirklichen, indem sowohl die Vielfalt als auch die Gleichwertigkeit der Bürger voll berücksichtigt wurde. Die Hijra war keine Flucht, sondern eine wohlgeplante Auswanderung.


Mit der Hijra kamen - auch in den Offenbarungstexten - zu den spirituellen und ethischen Grundzügen Beispiele für die Lösungen konkreter zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Fragen hinzu, z.B. in bezug auf das Familienleben, im Zusammenhang mit Angriffen von innen und außen, hinsichtlich des Zusammenlebens verschiedener Religionen usw. Grundlage blieb nach wie vor die persönliche Verantwortung. Auf der persönlichen Ebene lag zunächst auch die Integration, die der Prophet (s) vornahm, indem er zwischen je einem Muhâjir
(Auswanderer)
und einem der Ansar (Helfer) Blutsbrüderschaft stiftete, woraufhin Vorhandenes wie in einer Familie miteinander geteilt wurde, nicht nur materielle Mittel, sondern auch die Kenntnisse von Landwirtschaft (Medina) und Handel (Mekka) sowie die spirituellen Grunlagen und Erfahrungen.


Wenn auf diese Weise auf der zwischenmenschlichen Ebene die Vision von einer organischen Einheit verwirklicht wurde, dann geschah dies auf der politischen Ebene in der Verfassung von Medina, deren Grundprinzip die Zusammenarbeit und gemeinsame Außenpolitik autonomer und eigenverantwortlicher Stammeseinheiten war. Entscheidungen wurden, wie es unter den Stämmen der damaligen Zeit üblich war, in gegenseitiger Beratung getroffen, eine Selbstverständlichkeit, auf die in Sura 42:39 in einem Atemzug mit Salâh und Zakât hingewiesen wird; der Prophet (s) war, abgesehen von seiner Funktion als geistiger Lehrer und Vorbild, die letzte Instanz für Streitfälle. Zentrum der neuen, jetzt unabhängigen Gemeinschaft war die Moschee, deren Funktion nicht nur die einer Gebetsstätte und eines Unterrichtsraums war wie seinerzeit Darul-Arqam, sondern entsprechend den neuen Gegebenheiten darüberhinaus Unterkunft für Obdachlose, Studenten, Reisende und freigelassene Sklaven und Sklavinnen, Lazarett, Beratungszentrum sowie ein Ort für Verhandlungen und den Empfang von Delegationen: das Leben als Einheit ohne eine Trennung in einen "sakralen" und einen "profanen" Bereich, denn alle Handlungen geschehen im Bewußtsein der Gegenwart Gottes. Der Prophet (s) sagte: "Ihsân ist, daß du Gott so dienst, als ob du Ihn sähest, denn auch wenn du Ihn nicht sehen kannst, so sieht Er doch dich."


Innere Probleme traten später durch Verrat und Vertragsbrüche auf, und es war keinesfalls leicht, befriedigende und effektive Lösungen dafür zu finden, denn die Grundlage des Gemeinschaftslebens ist Vertrauen.


Ähnliches gilt für die Auseinandersetzungen mit den Quraish in Mekka. Es ist in einer privilegierten Situation leicht, sich für "Gewaltlosigkeit" im Sinne von Verzicht auf phyische Gewaltanwendung auszusprechen, aber es besteht dabei auch immer wieder die Gefahr der Heuchelei, wenn man außer acht läßt, daß wirtschaftlicher und psychosozialer Druck eine für Menschen unwürdige und unerträgliche Situation schaffen können. Im Qur'an wird dieser Tatsache Rechnung getragen, und die Menschen werden aufgefordert, "Böses mit Besserem abzuwehren (Sura 41:35-36)" und "zu vergeben und Besserung zu bewirken (Sura 42:40-44)", sofern sie über den erforderlichen inneren Reichtum dazu verfügen. Beispiele hierfür aus dem Leben des Propheten (s) sind der Friedensvertrag von Hudaibiya, den der Prophet (s) trotz der für die Muslime ungünstigen Bedingungen unterzeichnete, um den bewaffneten Auseinandersetzungen ein Ende zu setzen, und die allgemeine Amnestie nach der kampflosen Einnahme Mekkas. Innerhalb eines gewissen Rahmens ist es jedoch aus islamischer Sicht legitim, sich selbst zu verteidigen und sich für andere einzusetzen, die Unrecht leiden; die Mittel sollen in diesem Falle so gewählt werden, daß sie größeren Schaden vermeiden und möglichst eine Aussöhnung bewirken.


Sowohl im Qur'an als auch in der Verfassung von Medina ist ein konstruktives Zusammenleben der Religionen vorgesehen. Auf der Grundlage des Einheitsgedankens lehrt der Islam, daß Religion immer auf den einen Ursprung und Kern zurückgeht (z.B. in Sura 42:14-16) bzw. daß der Eine Gott sich allen Völkern zu allen Zeiten offenbart hat (die Überlieferung spricht in diesem Zusammenhang von Tausenden von Propheten und Gesandten), ggf. auf sehr verschiedene Weise je nach dem soziokulturellen Kontext. Es ist selbstverständlich, daß ein gläubiger Mensch Zeugnis für seinen Glauben ablegt, aber darüberhinaus fordert der Qur'an uns ausdrücklich auf, mit den Angehörigen anderer Religionen - speziell unserer abrahamitischen Schwesterreligionen - nach Gemeinsamkeiten zu suchen und darauf aufzubauen (z.B. in Sura 3:65), und in der Hadîthliteratur gibt es zahlreiche Belege für Gespräche zwischen Angehörigen der verschiedenen Glaubensrichtungen. Wenn es dennoch in Medina aufgrund von Vertragsbrüchen zu Konflikten kam, bedeutet dies weder, daß die islamischen Ideale in dieser Hinsicht nicht realisierbar sind, noch, daß man nach diesen Erfahrungen auf neue Versuche verzichten sollte. In der Tat hat es in der islamischen Geschichte immer wieder mehr oder weniger gelungene Ansätze dieser Art gegeben, etwa mit Hindus und Buddhisten auf dem indischen Subkontinent, mit Juden und Christen in Palästina und Andalusien usw. Mystikern ging es dabei auch noch um weit mehr als um ein konstruktives Zusammenleben, nämlich um die Entdeckung der göttlichen Offenbarung in der Spiritualität der anderen Religion. Das bekannteste schriftliche Zeugnis ist wohl das Gespräch zwischen Darah Shikoh und dem Yogi Baba Lal Das.


Für den modernen westlichen Beobachter ist eine solche Verbindung zwischen Spiritualität und Politik schwer verständlich. Das mag vor allem daran liegen, daß in der Geschichte immer wieder aus der Religion stammende Schlagwörter und Lehrsätze als Vorwand für machtpolitische Schritte mißbraucht worden sind (das gilt für jede Religion und Weltanschauung). Das islamische Politikverständnis entspricht ursprünglich dem griechischen, im Sinne von "Gemeinschaftsbildung". Hierzu wird nicht einfach ein irgendwie geartetes und zustandegekommenes Netz zwischenmenschlicher Beziehungen vorausgesetzt, sondern Überlegungen auf der Grundlage des Begriffs einer ausgewogenen Gerechtigkeit mit dem Ziel, einen Frieden zu verwirklichen, der mehr ist als bewaffnete Neutralität. Islâm, Hingabe an Gott, ist nicht zufällig verwandt mit Salâm, Frieden, und mit einer Wurzel, die
"heil sein", "ganz sein
" bedeutet. Wie das Individuum Stadien durchschreitet, um Frieden mit sich selbst, seiner Umgebung und seinem Schöpfer zu erlangen, so auch die Gesellschaft. Somit ist auch der Begriff Dîn, oft übersetzt mit Religion, eigentlich eher ein Beziehungssystem mit Rechten und Pflichten; Dayyân ist im Arabischen ebenso wie im Hebräischen der Richter, der das Gleichgewicht der Gerechtigkeit wiederherstellt, und Madîna ist der Staat als konkret verwirklichtes Beziehungssystem. "Die Gemeinschaft," sagte der Prophet (s), "ist wie ein Körper: wenn ein Glied krank ist, leiden die anderen mit." Es kommt darauf an - und das ist die Beziehung von Spiritualität und Politik - daß in Einsicht und Verantwortung ethische Werte im Gemeinschaftsleben verwirklicht werden, wobei die verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens nicht voneinander getrennt, sondern als Einheit erfahren werden. Dazu gehört allerdings auch, daß man im Vertrauen auf Gott Tyrannen Widerstand leistet - auch und gerade dann, wenn sie religiöse Begriffe als Parolen mißbrauchen. Das ist der
"Vorzüglichste Jihâd"
, der Einsicht und ein gut ausgereiftes ethisches Gespür erfordert und Disziplin, Selbsterkenntnis und inneren Reichtum voraussetzt.


Während die vorliegende Anordnung des Qur'an ihren erzieherischen Wert für alle Menschen hat, die in die muslimische Gemeinschaft hineinwachsen, ist das Beispiel des Propheten (s) und die chronologische Folge der offenbarten Texte wichtig für die spirituelle Entfaltung und Erkenntnis. Der Prophet (s) ist hier wegweisend für den spirituellen Lehrer, der auf der Grundlage gegebener ethisch rechtlicher Verhältnisse in seinen Schülern die Fähigkeit weckt, ihr ethisches Gespür zu verfeinern, ihre Mitmenschlichkeit zu entfalten, ihre Vernunft zu schärfen, im Bewußtsein der Gegenwart Gottes Verantwortung zu tragen und Entscheidungen zu treffen, über ihre eigenen Interessen hinauszublicken und im ständigen Dialog mit dem Urgrund des Seins zu bleiben. Darum geht die Liebe des gläubigen Menschen zu Gott einher mit der Liebe zu Seinem Gesandten (s), der ihm diesen Weg eröffnet hat und mit dem er sich als Mensch verbunden fühlt.

Quelle: www.mj-net.de

@ Ekrem Yolcu