Originaltext

Sura 103

(© Mürsid 1.0, astec GmbH)

103-AL-'ASR

Übersetzung

Der Nachmittag (offenbart in Mekka)

Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen

1.Bei der (flüchtigen) Zeit,

2. Wahrlich, der Mensch ist in einem Zustande des Verlusts,

3. Außer denen, die glauben und gute Werke tun und einander zur Wahrheit mahnen und einander zum Ausharren mahnen.

  KOMMENTAR


Kommentar

Diese kurze Sura ist die Zusammenfassung des Grundgesetzes des Islam und der Anweisungen für das Handeln im täglichen Leben eines Muslims - nämlich Glaube als Grundlage für alles Handeln, daraus resultierende gute Taten und das gegenseitige Sich-Ermahnen zur Wahrheit und zur Geduld.

Betrachten wir nun die Verse im einzelnen:

Das arabische Wort 'asr im ersten Vers dieser Sura bedeutet »Nachmittag«, aber auch »Zeit« oder »Zeitalter«; der erste Vers kann also auch übersetzt werden mit »Bei der Zeit ! « Nach Meinung einiger Qur'an-Kommentatoren ist mit »der Zeit« oder »dem Zeitalter« das Zeit-alter des Propheten Muhammad (a.s.s.) gemeint, das ja durch sein Erscheinen und durch die Erneuerung der Religion ein gutes Zeitalter war; nach Meinung anderer Gelehrter soll dieses Wort besagen: »Beim Herrn der Zeit ! «, also »Bei Allah!« Eine weitere Gruppe von Qur'an-Kommentatoren vertritt die Ansicht, daß mit 'asr das Nachmittagsgebet gemeint sei; es wird im Arabischen anstatt salâtu-l-'asr auch kurz al-'asr genannt. Das Nachmittagsgebet, das sogenannte mittlere Gebet«, genießt einen besonderen Vorzug für diejenigen, die es pünktlich zu seiner festgesetzten Zeit verrichten, weil man im allgemeinen gerade zu dieser Tageszeit geneigt ist, das Gebet zu vernachlässigen; denken wir in diesem Zusammenhang an Vers 238 der Sura 2 (AI-Baqara, Die Kuh), in dem uns Allah (t) ausdrücklich auf dieses Gebet hinweist:

»Haltet die Gebete ein, und das mittlere!« »Mittleres« Gebet heißt das Nachmittagsgebet wahrscheinlich deshalb, weil es, obwohl es im letzten Viertel des Tages verrichtet wird, in der Mitte der Reihenfolge der Pflichtgebete liegt:

Man beginnt den Tag mit dem Morgengebet, dann folgt das Mittagsgebet, in der Mitte steht das Nachmittagsgebet, sodann verrichtet man das Abendgebet und schließlich das Nachtgebet. Viele Suren, die zu Beginn des Prophetentums Muhammads (a.s.s.) in Mekka offenbart wurden, beginnen mit einem Schwur Allahs (t) so wie diese. Allah (t) schwört bei Naturereignis sen, Naturgesetzen oder Dingen, die uns Menschen selbstverständlich erscheinen wie in dieser Sura der Nachmittag oder die Zeit, daß die Worte, die Er Seinem Gesandten Muhammad (a.s.s.) offenbart hat, so wahr sind, wie eben diese Naturereignisse oder Dinge, die wir ständig erleben. Bedenken wir dabei auch, daß der Prophet (a.s.s.) anfangs zutiefst erschrocken war über die ihm zuteilgewordenen Offenbarungen, und so versicherte ihm Allah (t) in den darauf-folgenden Offenbarungen durch die Schwüre am Anfang der Suren, daß es sich hierbei wirklich um Offenbarungen von Allah (t) und um die Wahrheit handele und nicht etwa um Eingebungen eines bösen Geistes.

Der grammatische Einzahlbegriff »der Mensch« steht in Vers 2 dieser Sura als Abstraktion für die ganze Menschheit; »Verlust« bedeutet in diesem Zusammenhang »Schaden«, nach anderen Kommentatoren »Untergang«, »Bestrafung«, »Übel« oder »Übervorteilung« - wie man sieht, liegen die verschiedenen Begriffe in ihrer Bedeutung alle nahe beieinander.

Im zweiten und dritten Vers dieser Sura werden die Taten der Menschen gleichsam mit Handels-waren verglichen: Die Besitzer der schlechten Waren mit ihrem ichbezogenen, auf materiellen Gewinn ausgerichteten Tun verlieren und haben den Schaden, während die Besitzer der guten Taten Gewinn erzielen.

Die Besitzer der schlechten Waren sind die Ungläubigen mit ihren Taten, die sich auf den »Handel« einlassen in der Hoffnung, ihre schlechten Waren günstig einzutauschen für das Wohlergehen im Jenseits, doch sie sehen sich getäuscht: Allah (t) tauscht ihnen ihre schlechten Taten und ihren Unglauben nicht für das Paradies ein, sondern für die Strafe des Höllenfeuers.

Ausgenommen von diesem verlustreichen Handel der Menschheit sind diejenigen, »die glauben...« - die an die Existenz und die Einheit Allahs (t) glauben, die an die Entsendung von Allahs Boten (a.s.) glauben und daran, daß Muhammad (a.s.s.) der letzte und für alle Völker entsandte Prophet ist, die daran glauben, daß die vom Gesandten Allahs (a.s.s.) übermittelten Gebote und Verbote und sein Vorbild für alle Muslime und in jedem Zeitalter verbindlich sind und daß die durch ihn übermittelte Botschaft die Wahrheit ist.

Im Anschluß an den Glauben werden im dritten Vers dieser Sura noch andere Eigenschaften genannt, die diejenigen besitzen, die vom verlustreichen Handel ausgenommen sind:

»...und gute Werke tun, und sich gegenseitig zur Geduld anhalten.« Diese weiteren Eigenschaften stehen mit dem Glauben in unmittelbarem Zusammenhang - denn ohne ihn haben sie keinen Wert. Betrachten wir dazu zunächst den folgenden Hadit, der von Muslim überliefert wird:

'A'isa ®, die Frau des Propheten Muhammad (a.s.s.), fragte:

»O Gesandter Allahs! Ibn Gud'ãn pflegte in der Zeit der Unwissenheit vor dem Islam die Bande der Verwandtschaft und gab Armen zu essen, kaufte Kriegsgefangene los, ließ Sklaven frei und beförderte Personen und Lasten auf seinen Kamelen um Allahs willen ohne Entgelt. Nützt ihm das etwas?« Der Prophet (a.s.s.) erwiderte:

»Nein, denn er hat niemals gesagt: « Mein Herr, vergib mir meine Sünden am Tage des Gerichts! Die guten Werke müssen also getan werden, während man an Allah (t) glaubt, sonst werden sie von Allah (t) nicht angenommen, oder anders ausgedrückt, diejenigen, die nicht an Allah (t) glauben, führen nicht nur mit ihren schlechten Taten einen verlustreichen Handel, sondern auch mit ihren »guten Werken «, da diese ohne den Glauben an Allah (t) keinen Wert haben. So heißt es im Qur'an, Sura 9 (At-Taúba, Die Reue), Vers 54:

»Und nichts verhindert, daß ihre Spenden von ihnen angenommen werden, außer daß sie nicht an Allah und seinen Gesandten geglaubt haben.« Wie Vers 62 der Sura 2 (Al-Baqara, Die Kuh) zeigt, bezieht sich dies jedoch nicht auf die Angehörigen der »Schriftreligionen«:

»Diejenigen, die glauben (d. h. die Muslime), und diejenigen, die dem Judentum angehören, und die Christen und die Sabäer - wer immer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt und Gutes tut, sie haben ihren Lohn bei ihrem Herrn, und keine Angst soll sie überkommen, noch werden sie traurig sein.« Dies gilt allerdings mit einer Einschränkung:

Der Lohn der Juden, Christen und Sabäer kann nur dann im Paradiesleben bestehen, wenn sie noch niemals etwas vom Propheten Muhammad (a.s.s.) gehört haben. Dazu sagte einer Oberlieferung von Al-Qurfubl zufolge der Gesandte Allahs (a.s.s.):

»Es gibt keinen in dieser Gemeinde, sei er Jude oder Christ, der von mir hört und dann nicht an die Botschaft glaubt, mit der ich gesandt wurde, ohne daß er zu den Insassen der Hölle gehören wird. Und in einer ähnlichen Oberlieferung bei Al-bari heißt es:

»...darauf sagte der Prophet: ,Wer in der wahren Religion Jesu (a.s.) stirbt, ohne von mir gehört zu haben, dem wird es wohlergehen, doch wer heute von mir hört und nicht an mich glaubt, der ist verloren.«

Hierzu ist ausdrücklich zu bemerken, daß auch das ursprüngliche, unverfälschte Christentum »Islam« war, d. h. »völlige Ergebung in den Willen Allahs (t)«, ebenso wie die Lehre aller wahren Propheten Allahs (a.s.). Der Islam wurde also nicht von Muhammad (a.s.s.) begründet, sondern auf die letzte und höchste Form seiner Entwicklung gehoben. In der einen oder anderen Form existierte er seit der Zeit Adams (a.s.) und wurde von niemand anderem begründet als von Allah selbst.

Was sind nun »gute Werke«?

Das sind Taten, die den Geschöpfen Allahs nützen und den Bedürftigen in ihrer Not helfen. Denn wer Allahs Geschöpfen dient, indem er ihnen Gutes erweist und ihnen in Not und Elend hilfreich zur Seite steht, der dient damit auch ihrem Schöpfer und Herrn. Der Begriff »gute Werke« ist also sehr weit gefaßt zu verstehen; er beinhaltet alles, was einem anderen Geschöpf - von den eigenen Eltern bis hin zu den Tieren der Wildnis - Wohltat und Hilfe ist, vom Unter-lassen übler Rede und Beleidigung bis hin zur Rettung aus Lebensgefahr, und für diese guten Taten verspricht Allah (t) im Jenseits das Paradies.

Mit der »Wahrheit« in Vers 3 soll nach Ibn 'Abbàs ® die Lehre von der Einheit Allahs (t), des Tauhid, gemeint sein, nach Meinung anderer der Qur'an. Wie dem auch sei - nach allgemeiner Definition ist die Wahrheit eine feststehende Tatsache, die niemand leugnen kann, und sie bezeichnet in diesem Zusammenhang alles Gute: von der Lehre des Tauhid bis zum Gehorsam Allah (t) gegenüber, indem man Seine Gebote und die Lehre Seiner Gesandten (a.s.) befolgt, bis zur Enthaltsamkeit im Diesseits und dem Verlangen nach dem Jenseits. Der Vers 17 von Sura 90 (Al-Balad, Die Ortschaft) lautet ähnlich wie der letzte Vers der hier besprochenen Sura:

»...und hierauf zu denen gehören, die glauben und sich gegenseitig die Barmherzigkeit ans Herz legen.« »Geduld« bedeutet Ausharren im Gehorsam gegenüber Allah (t) und Ablassen vom Ungehorsam Ihm gegenüber, aber auch Ertragen von Prüfung und Unglück. Das Wort »gegenseitig« zeigt, daß der Muslim sich mit der Wahrheitsliebe und der Geduld nicht auf sich allein beschränken darf, sondern auch andere Menschen dazu anhalten soll, denn der Islam ist keine Religion für Einsiedler, sondern in erster Linie eine Religion für Menschen, die in Gemeinschaft miteinander leben. Und wenn einer in dieser Gemeinschaft sieht, daß ein anderer seine Pflichten vernachlässigt, so soll er ihn an deren Erfüllung erinnern. In diesem Sinne kann der Text auch bedeuten: »sich gegenseitig mit der Wahrheit ermahnen« - d. h. also, sich gegenseitig mit der Wahrheit und der Weisheit aus dem Qur'an Rat erteilen und Anweisungen für ein rechtschaffenes, gottesfürchtiges Leben geben.

Das arabische Wort tawâsu, »sich gegenseitig ans Herz legen, sich gegenseitig anhalten, sich gegenseitig anraten«, steht in diesem Vers zwei-mal: das erste Mal in Verbindung mit der »Wahrheit« und das zweite Mal in Verbindung mit der »Geduld«. Diese Wiederholung desselben Wortes, das hier in der Obersetzung mit zwei verschiedenen Wörtern ähnlichen Sinnes wider-gegeben wurde, weist auf die Bedeutung der »Gegenseitigkeit« hin. Mit »sich gegenseitig zur Geduld anhalten« ist also gemeint, daß man seinem Mitmenschen in schwierigen Situationen, Notlagen und im Elend Mut macht, Trost spendet und ihn zum Ausharren und geduldigen Er-tragen seiner Lage anspornt. Denn der Muslim darf niemals aufgeben, auch wenn seine Lage noch so aussichtslos erscheint - weiß er doch nicht, ob ihn Allah (t) vielleicht damit prüfen will oder ob sich seine Situation nicht doch noch zum Besserenwenden wird.

Lehre

  1. Die in dieser Sura aufgeführten Sätze gehören zu den wesentlichsten Regeln, die der Muslim in der Praxis des täglichen Lebens beachten muß. Wenn er nicht nach den genannten Anweisungen handelt, verliert er die Gnade Allahs (t) und die Glückseligkeit im Jenseits.
  2. Gute Werke allein bringen den, der sie verrichtet, nicht ins Paradies, weil Allah (t) sie nur dann annimmt, wenn sie aus dem Glauben an Ihn, Seine Propheten (a.s.) und Seine offenbarten Schriften oder in Verbindung mit dem Glauben getan werden, der Voraussetzung für ihre Annahme ist.
  3. Der Islam ist eine Religion für die Gemeinschaft. Daher muß auch das Ermahnen zur Wahrheit und das Anhalten zur Geduld unter den Mitgliedern der islamischen Gemeinschaft auf Gegenseitigkeit beruhen.

Und Allah (t) weiß es am besten!