Kein Blut für Öl

Von Bernd Posselt MdEP, Präsident der Paneuropa-Union Deutschland e.V.

Zehn Jahre ist es her, seit mit der Teilung Deutschlands und Europas das Erbe Stalins zu verschwinden schien. Nach dem Paneuropa-Picknick an der österreichisch-ungarischen Grenze glaubten viele, Kommunismus und Krieg seien urmderruflich dahin; der amerikanisch-japanische Philosoph Fukuyama sprach gar vom ,,Ende der Geschichte".

Solchen Illusionen hingen die geschichtsbewußten Männer nicht an, die im kaukasischen Mineralnij Voda die Weichen für die deutsche Einheit stellten. Der unvergessene Paneuropäer und damalige Regierungssprecher Hans "Johnny" Klein schilderte die entscheidenden Verhandlungen zwischen Helmut Kohl und Michail Gorbatschow in seinem Buch ,,Es geschah im Kaukasus" aus eigenem Erleben.

Heute," zehn Jahre später, tobt nicht weit von Mineralnij Voda, tiefer im Kaukasus, ein blutiger Vernichtungs- und Vertreibungskrieg, der sechste, der seit dem Wendejahr 1989 an den Rändern Europas ausgebrochen ist, auf dem Balkan oder eben im Kaukasus. Nur wenige Medien machen auf die Katastrophe dort aufmerksam, mit Kommentarüberschriften wie ,,Der Westen schaut weg" oder ,,Krieg - und kein Aufschrei!". daßei könnte das, was sich in und um Tschetschenien derzeit abspielt, die Gefährlichkeit aller bisherigen Konflikte mit Milosevic und den Kriegsherren im Kreml bei weitem in den Schatten stellen.

Letztere haben diesmal propagandistisch sehr gut vorgebaut. Ihre teils bewußten, teils unbewußten Hilfstruppen in verschiedenen Medien haben seit einigen Monaten von der "Fundamentalistischen Gefahr" geschrieben, die auch für Europa und den ganzen Westen von Tschetschenien ausgehe. Untermauert wurde dies in den letzten Wochen offenbar durch die mysteriösen, hinterhältigen und brutalen Terroranschläge auf russische Mietshäuser, denen hunderte von unschuldigen Zivilisten, darunter viele Kinder, zum Opfer fielen.

Die Lage schien förmlich nach ,,Polizelaktionen" der ,,Ordnungskräfte" zu schreien. Kaum jemand sah, wie gespenstisch sich die Muster glichen. Auch Milosevic hatte behauptet, er müsse das christliche Abendland gegen den muslimischen Ansturm der Albaner verteidigen, bis über eine Million vertriebener Zivilisten der Weltöffentlichkeit die Wirklichkeit drastisch vor Augen fuhrte.

Zum Beleg dafür, daß im Kaukasus eine geheimnisvolle muslimische Internationale des Terrorismus am Werke sei, wurden von russischer Seite ständig die Namen jordanischer oder türkischer Kämpfer ins Feld geführt, die aus rein religiösen Gründen, aus "Fundamentalismus" dort im Einsatz seien. Daß in der Tat Freiwillige aus diesen Ländern den Tschetschenen und anderen Kaukasusvölkern zur Seite stehen, hat indes ganz andere Gründe: Als der zaristische Kolonialismus Mitte des letzten Jahrhunderts dort ein Unterdrückungssystem errichtete, wurden Zehntausende von Tscherkessen, Tschetschenen und anderen kaukasischen Muslimen ins Osmanische Reich vertrieben, wo sie sich in der heutigen Türkei und in der heutigen arabischen Welt niederließen.

Es ist viel zu wenig bekannt, daß die jetzige jordanische Hauptstadt Amman bis vor wenigen Jahrzehnten noch ein kleiner Ort und mehrheitlich von vertriebenen Tscherkessen bewohnt war. Die Türken und Araber, die man heute im Kaukasus fîndet, sind meist die Urenkel oder Ur-Urenkel von kaukasischen Vertriebenen - ein drastisches Argument gegen den Wahn, Vertreibungsprobleme durch Aussterben der Erlebnisgeneration "ideologisch" lösen zu können.

Auch das Tschetschenien-Problem von heute hat ursächlich mit dem Thema Vertreibung zu tun, nämlich mit der Deportation des ganzen Volkes durch Stalin gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Der russisch-nationalistische Georgier an der Spitze der Sowjetmacht hatte die freiheitsliebenden Tschetschenen als angebliche Kollaborateure in Lager in den kasachischen, kirgisischen und sibirischen Steppen gepfercht. Erst unter Chruschtschow durften sie nach und nach in ihre verwüstete und teilweise inzwischen russisch besiedelte Heimat zurückkehren.

Im benachbarten Daghestan hatte derselbe brutale Spätkolonialismus die komplizierte Vielvölkerwelt dort völlig durcheinandergebracht. Von den 36 daghestanischen Nationen - deren größte die Awaren sind, die mit dem Imam Schamil den berühmtesten Widerstandskämpfer gegen die russische Invasion im letzten Jahrhundert gestellt hatten - leben heute fast alle auf dem Gebiet, das ursprünglich den jeweils anderen gehörte, was jüngst bei den Kämpfen in der tschetschenisch-daghestanischen Grenzregion eine erhebliche Rolle spielte.

Unter den tschetschenischen Kindem, die in der stalinistischen Verbannung aufwuchsen, war auch der kleine Dschochar Dudajew, der später in die Rote Armee eintrat mit dem Ziel, sein Volk eines Tages in die Unabhängigkeit zu führen. Er brachte es durch Fleiß und Mut zu einem der höchstdekorierten sowjetischen Generäle und fungierte in den Jahren vor 1991, als sich die Sowjetunion auflöste, als sowjetischer Kommandeur im Baltikum, wo er den Befehl aus Moskau verweigerte, die Freiheitsbewegung der Esten und Letten in Blut zu ersticken. Deshalb heißen dort, aber auch in der Westukraine und anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion Straßen und Plätze nach ihm. 1991 wurde er tschetschenischer Präsident und fuhrte ab 1994 den Widerstand gegen die russische Invasion, der mehr als 60.000 Menschen zum Opfer fielen und nach der die OSZE einen Bericht über extrem schwere Menschenrechtsverletzungen durch das russische Militar voriegte. Am 21. April 1996 ließ die Moskauer Militärführung Dudajew durch einen gezielten Raketenangriff auf ein freies Feld, wo er gerade per Funk telefonierte und dadurch zu orten war, töten.

Der KGB und seine Nachfolgeorganisationen schürten schon in den achtziger Jahren, aber erst recht nach der Beseitigung Dudajews und des georgischen Präsidenten Gamsachurdia, im Kaukasus jeden denkbaren ethnischen Konflikt, in Tschetschenien auch zwischen den dort typischen und sehr unabhängigen Clans. Das vom russischen General Lebed und dem tschetschenischen Stabschef Maschadow ausgehandelte Waffenstillstandsabkommen wurde von den Herren im Kreml insofern nie eingehalten, als die versprochene Aufbauhilfe für das zu achtzig Prozent zerstörte Land bis heute ausblieb und äußerer Druck ebenso wie innere Wühlarbeit weiterhin die Instrumente des Moskauer Kolonialismus inTschetschenien waren.

Als Vonvand diente stets der Kampf gegen kriminelle Banden - die es in ganz Rußland und in den meisten sowjetischen Nachfolgestaaten gibt, die aber im Falle der Kaukasier vom Kreml mißbraucht werden, um ganze Völker dort zu kriminalisieren. Hintergrund sind die mächtigen Ölinteressen des russischen Energiekonzerns Gazprom, der die russische Politik ganz wesentlich bestimmt. Rings um das Kaspische Meer befinden sich bedeutende Öl- und Gasreserven, und Rußland glaubt nur dann davon ausreichend profitieren zu können, wenn die entsprechenden Pipelines über sein Gebiet verlaufen, was den Kaukasus und vor allem Tschetschenien zum geostrategisch bedeutsamen Brennpunkt macht.

Davon sprach übrigens in den letzten Tagen Rußlands Premier Putin ganz offen, einst ein führender KGB-Agent, der als Gehcimdienstchef schon den letzten Tschetschenien-Krieg vorbereitet hatte. Von Jelzin war er wohl deshalb diesen Sommer im Hauruck-Verfahren an die Spitze des Staates gestellt worden - mit überraschend wenig Widerstand aus ansonsten Jelzin-feindlichen nationalistischen und kommunistischen Gruppen im russischen Parlament, der Duma.

In eingeweihten Moskauer Kreisen ist noch von anderen Gründen für den jüngsten Militärschlag die Rede als von den Energieinteressen allein. Der Klüngel um Jelzin wolle angesichts der nahenden Wahlen durch den unter nationalistischen Russen populären Kampfgegen die Kaukasier innenpolitisch Punkte sammeln und, falls dies mißlinge, einen Vorwand haben, durch Ausrufung eines Ausnahmezustandes die Wahlen abzublasen. Dabei scheuten Geheimdienstkreise nicht einmal vor unheiligen Allianzen mit tschetschenischen Extremisten zurück, denen der gemäßigte tschetschenische Präsident Maschadow ebenso wie den Moskauer Hardliner ein Dorn im Auge sei.

Seit Herbstanfang hat die russische Armee die tschetschenische Zivilbevölkerung in den kaum wiederaufgebauten Dörfern und Städten systematisch und massiv mit Raketen und Artillerie beschossen. Hunderte von Toten, Tausende von Vertriebenen waren schon nach einigen Tagen die Folge. Wasserwerke und Chemiefabriken wurden bombardiert, was vielfach nicht nur die Trinkwasserversorgung zum Erilegen brachte, sondern dazu führte, daß tausend Tonnen Ammoniak und flüssiges Chlor zu einem großen Teil in den Fluß Sundscha gelangten und über den Fluß Terek so auch in das Kaspische Meer. Dadurch erleidet die Ökologie des Nordkaukasus einen unersetzlichen Schaden.

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Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.), 20/21.11.1999

Die wenigen Verkehrsverbindungen und Brükken, die nicht nach Rußland, sondern ins südlich benachbarte Georgien führen, sind vernichtet, dem Land droht die vollkommene Abriegelung.

Es ist höchste Zeit, daß die westlichen Regierungen das komplizenhaft wirkende Schweigen über den beginnenden Völkermord im Kaukasus endlich durchbrechen. Auch der Islamismus angeblicher "Wahabiten" - in seiner Bedeutung maßlos übertrieben, denn die Mehrheit der Kaukasier hängt der mystischen Sufi-Richtung des Islam an, die von den Wahabiten besonders erbittert bekämpft wird - kann kein Vorwand sein, um ganze Völker auszulöschen.

Und übrigens: Was ist aus dem alten Schlachtruf der Anti-Golfkriegs-Demonstranten geworden: "Kein Blut für Öl!"?

Quelle: AL-ISLAM, Nr. 5/1999

by Muhammed Faruk

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