Erschreckende Resultate einer akribischen
statistischen Arbeit — Mehr als 3767 Menschen starben
VON FRIEDEMANN DIEDERICHS
WASHINGTON - Wann immer Journalisten die Frage
nach zivilen Opfern des Afghanistan-Feldzugs stellten — die Antworten
des US-Verteidigungsministeriums und von Bush-Sprecher Ari Fleischer
folgten stets einem Schema: Man könne entsprechende Meldungen nicht
bestätigen, hieß es, da es an unabhängigen Informationen fehle.
Gelegentlich wurde dementiert, dass es Todesfälle innerhalb der
Zivilbevölkerung gegeben habe — eine Antwort, mit der sich die
amerikanischen Medien dann in der Regel auch zufrieden gaben.
Kritische Nachfragen wurden nur selten gestellt, die Journalisten
zeigten sich seit Beginn der Angriffe patriotisch und an diesem
unbequemen Thema kaum interessiert.
Nun jedoch sieht sich die Bush-Regierung
erstmals mit konkreten Zahlen konfrontiert, publiziert ausgerechnet
von einem amerikanischen Wirtschafts-professor. Marc Herold, der auf
einem Lehrstuhl an der Universität des Bundestaates New Hamp-shire
sitzt, hat zusammen mit seinen Assistenten akribisch vom ersten Tag des
Militär-Engagements an Buch geführt — und dabei nach eigenen An-^ gaben
alle verfügbaren Informationen von Hilfsorganisationen vor Ort,
Augenzeugen, Uno-Mitarbeitern, Reportern und Nachrichtenagenturen
ausgewertet. Herolds jetzt veröffentlichte Rechnung ergibt, dass vom 7.
Oktober — dem Beginn der Bombardierung von Taliban- und
El-Qaida-Stellungen — bis zum 10. Dezember mindestens 3767 Zivilisten
in Afghanistan das Leben verloren. Diese Summe entspricht nicht nur
einer „täglichen Todesrate" von 62 Opfern, sondern übersteigt auch die
Zahl der Menschen, die bei den Terroranschlägen des 11. September in
den USA zu Tode kamen.
Der Wissenschaftler betont bei der Vorlage dieser
Zahlen, dass diese „konservativ berechnet" worden seien. Sie enthalten
beispielsweise keine Zivilisten, die bei Bombenabwürfen verletzt wurden
und später dann an den Folgen starben, weil derartige Berechnungen nach
Herolds Angaben kaum zu verifizieren seien.
Keine Kämpfer
Auch seien jene, die vor allem in den ersten
Dezembertagen der Kälte und dem hereinbrechenden Winter zum Opfer
gefallen sind, in der Gesamtsumme nicht enthalten. Zudem hat Herold
keine Toten unter Militärangehörigen oder Kriegsgefangenen der Taliban
oder El Qaida mit in seine Statistik einfließen lassen, die am 10.
Dezember endet. Somit enthält sie auch nicht jene 65 Menschen, die nach
Angaben des Pentagon bei der Bombardierung eines Fahrzeugkonvois am Tag
vor der ersten Sitzung der Übergangsregierung ums Leben kamen. Dabei
ist weiter unklar, ob es sich um Taliban-Kämpfer oder Stammes-Älteste
gehandelt hat. die als geladene Gäste auf dem Weg nach Kabul waren.
Die seiner Ansicht nach extrem hohe Opferzahl
führt der Akademiker auf die Strategie der Kommandeure zurück, bei der
man auf Luftangriffe aus großer Höhe gesetzt und dabei auch
innerstädtische Ziele anvisiert habe, wenn dort Taliban-Kräfte vermutet
wurden. „Hier wurden bewusst zivile Opfer in Kauf genommen, während man
für die beteiligten eigenen Militärangehörigen das Risiko so minimal
wie nur möglich gehalten hat", urteilt der Professor. Mit der
Begründung, es handele sich um Irrläufer oder bedauerliche
Planungsfehler, sei die nach Angaben von Herold hohe Zahl an
Bombenschäden in zivilen Bereichen nicht erklärbar. Allein schon der
Einsatz von „cluster"-Streubomben in der Nahe von Siedlungen führe
unvermeidbar qiryiohen Opfern unter der Bevölkerung, so der
Statistiker.
Demonstrativ um humanitäre Gesten bemüht: Eine
amerikanische Patrouille verteilt Lebensmittelpakete an die Bevölkerung
östlich der Stadt Kandahar.
Quelle: Nürnberger Nachrichten, 29/30.12.2001